Erstellt am: 25. 8. 2012 - 12:04 Uhr
Bitte, hyperventilieren Sie!
Wer nicht die Wahrheit sagt, lügt noch lange nicht, heißt es in "Nullzeit" an einer Stelle. Juli Zeh führt ihre Hauptfiguren in ihrem neuen Roman bis an den Meeresgrund, während sich ihre Leser plötzlich in einem trüben Bereich wiederfinden, der gar arge Dimensionen annimmt. Ein Tauchlehrer holt seine neuen Kunden vom Flughafen ab. Rund um die Uhr soll dieser Sven Fiedler für die Schauspielerin Jolante von der Pahlen und ihren Lebensgefährten Theo Rast zur Verfügung stehen. Dass will bezahlt werden.
Vom Zitterrochen begleitet
Unterwasserwelten und Hyperventilationen, Sex und Macht und ein Gecko namens Emil - "Nullzeit" ist ein Inselroman, der einen auf andere Gedanken bringt. Wer sich ausliefert und wer ausgeliefert wird, ist hier die Frage.
Vergnügt und bestens unterhalten, ärgert man sich anfangs vielleicht kurz darüber, dass Zeh tatsächlich die Fluglinie beim Unternehmensnamen nennen muss. Den Zeitpunkt, an dem sich die Handlung verschiebt, übersieht man wie Tauchlehrer Sven seine Selbstverliebtheit. Bestens unterhalten strebt man geradewegs auf den Grund zu. Gut möglich, dass man wenige Seiten später mit dieser weiblichen Hauptfigur Jola nicht klar kommt. Und das im besten Sinne. Da muss und will man jetzt mit bis zum Ende.

Schöffling & Co.
"Nullzeit" von Juli Zeh ist bei Schöffling erschienen. Die ersten 29 Seiten stehen als Leseprobe zur Verfügung. Erhältlich ist "Nullzeit" natürlich auch als E-Book - da sind sich Autorin und Verleger einig.
"Die Sehnsucht, die in Daves Haltung zum Ausdruck kam, war frappierend". Jola, dieses erwachsene Kind aus adeligem und reichem Elternhaus, die keine Kinorolle ohne Papas Hilfe - die sie verweigert - ergattert und in einer Nachmittagsserie mitwirkt, ist kein Dummchen und keine flache Figur. Jolante von der Pahlen ist ein komplexer Charakter einer Frauenfigur, die einen ärgerlich machen kann. Sie hält den Lebensgefährten, einen Schriftsteller, dreifach aus: finanziell sowie psychisch wie physisch. Missbrauch im Klartext. Der eigene Tauchlehrer als Liebhaber könnte Jola billiger Eskapismus sein.
"Ich spürte das Glück wie eine Faust im Magen", liest man in ihren Notizen. Die Erzählung wechselt zwischen Jolas Tagebuchaufzeichnungen und der überwiegenden Erzählstimme des Sven Fiedler. Deutschland existiert für ihn nur noch als "Kriegsgebiet" und in der Vergangenheit: "'Deutschland' war der Name eines Systems, in dem es nur darum ging, was wem gehörte und wer woran Schuld trug". Für Touristen neckt Sven Fiedler auch Zitterrochen.
Ist die Frage nach Schuld überhaupt noch interessant?
Juli Zeh ist seit Kurzem auf Facebook. Doch die Kritikerin der Datenkrake nach ihren Beweggründen zu fragen, dafür ist die Zeit zu schade. Ihr Verlag betreibt den Account, Zeh veröffentlicht Skizzen zu ihrem jüngsten Roman und amüsiert sich über Warnhinweise vor Tauchgängen.

zita bereuter
Gezeichnet hat Juli Zeh auch schon für die FM4 Bücherei bei Zita Bereuter. Zu tauchen begann sie vor drei Jahren. "Ich bin also noch Anfängerin", schreibt die Autorin und promovierte Juristin. Juli Zeh ist jetzt Mutter eines Babys, da wären Interviews per Email willkommen. Umgehend erhält man ihre Antworten via Android-Gerät.
Was schätzt Juli Zeh an männlichen Ich-Erzählern? Woher kommt die Vorliebe für männliche Sichtweisen?
"Das ist schwer zu beantworten. Ich weiß es selbst nicht, warum ich gerne aus der Sicht von Männern erzähle. Als Mädchen wollte ich immer lieber ein Junge sein, vielleicht liegt es daran? Möglicherweise reizt einfach der 'fremde' Blick mehr als jener, mit dem man sich ohnehin identifiziert."
"Nullzeit" erfasst auch das Thema sexueller Missbrauch in Beziehungen. Wie schwer fällt es, sich von gängigen Täter-Opfer-Erzählungen zu lösen?
"Eine Freundin von mir lebte vor vielen Jahren in einer solchen Beziehung. Seit ich das indirekt miterlebt habe, hat das gängige Täter-Opfer-Schema in diesem Zusammenhang für mich keine Bedeutung mehr. Man fragt sich ja von außen immer: Warum zeigt die Frau den Mann nicht an? Warum verlässt sie ihn nicht? Liefert ihn nicht der Polizei aus? In "Nullzeit" habe ich unter anderem versucht zu zeigen, warum das nicht so einfach ist. Auch wenn sexueller Missbrauch nicht das wichtigste Thema ist."
Wie seine Roman-Vorgänger berichtet "Nullzeit" von einem Fall, der sich für Außenstehende - also für die anderen Figuren - in seinen Dimensionen nicht erschließen lässt. Ist die Frage nach Schuld überhaupt noch interessant?
"Die Frage nach Schuld ist immer interessant. Man muss nur aushalten können, dass aus der Antwort möglicherweise nichts folgt."
Wie verankerst du diesen Charakter der Frau von der Pahlen? Sie scheint ja ganz bewusst eine Figur, die jegliche Projektion erlaubt.
"Jola von der Pahlen ist eine zutiefst widersprüchliche Figur. Ich wollte eine Frau zeichnen, die zugleich sehr stark und sehr schwach ist. In ihr brennt ein wahres Feuer - aber es ist keine positive Wärme, sondern eher das Verlangen nach Rache, vielleicht auch Selbsthass. Solche negativen Gefühle befähigen einen Menschen, Unglaubliches zu vollbringen, während
er oder sie gleichzeitig im Inneren zutiefst schwach ist."
Wie viel Angriff ist in Beziehungen erlaubt und wieviel Verteidigung? In Bezug auf das sadistische Pärchen im Buch drängt sich diese Frage auf. Lässt sich das überhaupt beantworten?
"Allgemein verbindliche Regeln für etwas so Individuelles und Intimes wie eine Beziehung aufzustellen, ist nicht möglich. Aber es gibt Grenzen. Das, was Jola und Theo einander antun, liegt meistens genau auf dieser Grenze, irgendwann eskaliert es dann und nimmt eine Dimension an, die nicht mehr 'erlaubt' ist, also auch strafrechtlich relevant wäre.
Mich interessiert aber vor allem der Grenzbereich. In allen meinen Romanen gibt es Verbrechen, von denen man nicht wirklich sagen kann, ob es welche sind, oder ob das, was passiert, noch vom Recht des Einzelnen auf Selbstzerstörung gedeckt ist. Ein düsteres, aber auch sehr spannendes Thema, weil es letztlich das Wesen der menschlichen Freiheit ergründet."
Apropos Freiheit: Führst du noch deine Gespräche über Erneuerungsmöglichkeiten der Demokratie? Und hätten dich die Piraten jemals gewinnen können?
"Ja, inzwischen sogar in 'offizieller' Form, nämlich im Rahmen eines Gesprächskreises, den ich gemeinsam mit einer befreundeten Journalistin gegründet habe und in dem wir Politiker und Wissenschaftler zusammenführen. Mit den Piraten sympathisiere ich aufgrund ihrer liberalen Grundhaltung, aber Parteimitglied bin ich nicht."