Erstellt am: 26. 8. 2012 - 08:42 Uhr
Fiktive Flüchtlingsrealität
Erst im Juni dieses Jahres ging die Meldung von der skandalösen Blitzabschiebung von Madu T. durch die Medien. Er wurde nach acht Jahren in Österreich in nur dreißig Stunden entgegen den international ausgesprochenen Empfehlungen des UN Flüchtlingshochkommissariats in seine Heimat Mali abgeschoben, wo sein Leben durch den Bürgerkrieg bedroht wird.
Wenige Tage später wird Omar Dibba in die Diktatur Gambia abgeschoben. Auch er war bereits acht Jahre in Österreich und ist Vater einer vierjährigen Tochter. Letzte Woche schlägt das "Abschiebungsschicksal" erneut zu und reißt die Familie Hovhannisya auseinander. Die Mutter wird mit ihrer Tochter nach Armenien abgeschoben, Vater und Sohn halten sich noch in Österreich auf.
Was mit sehr dramatischen Lebensgeschichten nur über diese einzelnen Fälle an der medialen Oberfläche wahrzunehmen ist, bedeutet für viele Flüchtlinge und ihre Betreuer Alltäglichkeit. Das macht den Wiener Musiker, Journalisten und Autor Martin Horváth nicht nur betroffen, sondern auch zornig. Es sind die immer schärfer werdende Asylpolitik Österreichs, der administrativ-behördliche Umgang mit Flüchtlingen und dem gegenübergestellt die Leidensgeschichten der Flüchtlinge, die von Traumatisierungen geprägt sind, die in Horvats Debütroman "Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten", verarbeitet werden. Das Buch ist somit der schwächsten Randgruppe unserer Gesellschaft gewidmet, den Flüchtlingen.
Mohr im Hemd...
Ali ist ein UMF, also ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Er lebt in einem Flüchtlingsheim in Wien, ist angeblich fünfzehn Jahre alt, spricht angeblich über vierzig Sprachen und ist entgegen der landläufigen Annahme nicht hier in Österreich, um Asyl zu beantragen. Er selbst sieht sich vielmehr als Robin Hood der gesellschaftlich Geächteten und Vergessenen, Anwalt der Unterdrückten, als Rächer jener Sündenböcke der ausländischen Bedrohung, die durch unsere Vorurteile im kollektiven Bewusstsein erst entstanden sind. Alis selbstdefinierte Aufgabe ist es, die tragischen Lebensgeschichten seiner Mitbewohner der Dunkelheit zu entreißen und uns zu erzählen, um sie dadurch ans Licht zu bringen.
Dieses Element ist nicht mehr verfügbar
DVA Verlag
Ali selbst ist im vierten Stock des Hauses untergebracht, dem "Leo", wo sich alle minderjährigen Flüchtlinge befinden. Es ist ihre Zuflucht, wie beim Fangenspielen jener Ort der Neutralität, wo einem nichts passieren kann. Doch mit der zunehmend schlimmer werdenden Situation im Haus, der permanenten Angst vor der drohenden Abschiebung, den durchbrechenden psychischen Störungen der traumatisierten Flüchtlinge und den rigiden Gesetzesbeschlüssen in der Asylpolitik bröckelt auch das Gefühl der Sicherheit des geschützten Raumes im vierten Stock. Und als Alis Freund, der minderjährige Flüchtling Liu, in einer frühmorgendlichen Hau-Ruck-Aktion abgeschoben wird, beschließt der scheinbar allwissende Flüchtlingsjunge zu handeln und startet eine Untergrundrevolution, die selbst vor der berüchtigten "Abschiebeministerin" nicht halt machen will.
... oder Wie ich auszog, die Welt zu retten
Das Konzept, einen Roman aus der Sicht eines Menschen zu schreiben, der am Rande der Gesellschaft lebt und meist als unangenehmes Problem wahrgenommen und tabuisiert wird, erinnert stark an Ned Vizzinis "Eine echt verrückte Story", den halb autobiographischen Roman über Depression und Psychiatrieaufenthalt. Martin Horáths "Mohr im Hemd" ist jedoch noch radikaler, fiktiver und damit auch sehr mutig, denn Horváth ist nicht wie Vizzini selbst betroffen. Umgelegt auf die Geschichte über ein österreichisches Flüchtlingsheim, erzählt aus Sicht eines Minderjährigen, ist der Autor weder Flüchtling, noch Flüchtlingsbetreuer. Und so wird wohl die Frage "Na, darf der das dann überhaupt schreiben?" wie ein Reflex in den Köpfen vieler herumschwirren.
Reinhard Öhner
Und um die Antwort gleich vorweg zu nehmen: Ja, er darf. Schließlich muss ein Autor dazu im Stande sein, sich in andere Menschen, deren Lebensgeschichten und somit auch andere Kulturen hineinversetzen zu können. Dafür hat Martin Horváth viel recherchiert, Literatur zum Thema Asyl durchforstet, auch über die psychischen Belastungen bei Flüchtlingen durch Traumatisierung. Er hat Bescheide der Asylbehörde studiert, Interviews mit Flüchtlingsbetreuern gemacht und schließlich eine Flüchtlings-Buddy-Ausbildung im Intergrationshaus Wien absolviert. Kompetenz kann man dem Wiener Autor also keine absprechen.
Darüber hinaus ist die Kunst so wie auch die Literatur dazu angehalten, uns die Realität mit ihren ganz eigenen, oft überspitzen Mitteln und Perspektiven widerzuspiegeln. Deshalb sind viele der Geschichten, die der Hauptcharakter Ali uns erzählt, fiktiver Natur, wobei Martin Horváth ausdrücklich sagt, dass sie nicht nur nahe an der Realität sind, sondern dass die wahren Geschichten die erfundenen an Horror sogar noch übertreffen können.
Der Zorn als Motor
Dreh- und Angelpunkt des Buches ist und bleibt neben all den tragischen Geschichten der Flüchtlinge des Wiener Flüchtlingsheimes der minderjährige Ali, aus dessen Perspektive hier erzählt wird. Er scheint alles zu wissen, ein Experte der Asylpolitik und ein scharfer Beobachter der österreichischen Machtstrukturen zu sein. Darüber hinaus ist er auch sprach- und kulturkundig und kann so jedem Flüchtling die persönliche und "wahre" Geschichte entlocken. Dabei erhält man den Eindruck, dass Ali immer mehr zu fabulieren beginnt. Dieser vermeintliche Asyl-Superman ist nur zum geringen Teil eine notwendige Konstruktion für die ganz eigene Erzählstruktur des Romans. Martin Horváth spielt nämlich ganz schlau und gezielt mit Fiktion und Realität, um das sehr verbreitete Vorurteil zu thematisieren, Flüchtlinge würden per se lügen. Lügen über ihr Alter, ihre Herkunft, ihren Lebensweg, um sich so einen positiven Asylbescheid zu erschleichen.
Reinhard Öhner
Der Zorn über solche Vorurteile wird aber auch durch die Studien zu Asylbescheiden und dem österreichischen, bürokratischen Umgang mit Flüchtlingen permanent geschürt. Der unglaubliche Zynismus, der solchen Bescheiden meist innewohnt, wird in "Mohr im Hemd" transformiert zu einer wütenden Anklage gegen die herrschenden politischen Verhältnisse in Österreich. Und das alles durch den Mund eines minderjährigen, hitzköpfigen Flüchtlings, der sich in der Auswegslosigkeit seiner Situation aufmacht, die Welt zu retten.
Dieses Element ist nicht mehr verfügbar
Von Anbeginn scheint diese fiktive Hauptfigur die Macht über den Autor gewonnen zu haben. Der schwarze Humor und das ironische Spiel mit der political correctness in "Mohr im Hemd" haben erst mit Ali Einzug in das Schreiben gefunden. Ursprünglich wollte Martin Horváth sein Debüt als ernstes Anliegen formulieren, doch das barg die Gefahr des erhobenen Zeigefingers. Zum Glück hat Ali hier Martin einen Strich durch die Rechnung gemacht, denn genau wie bei Vizzinis "Eine verrückte Story" ist auch hier der Humor ein entwaffnendes Mittel. Es ermöglicht dem Leser die teils sehr bedrückenden Lebensgeschichten auszuhalten und am Roman dran zu bleiben. Und schließlich wird durch die beißende Ironie der ganze Zorn und die anklangende Wut des Autors spürbar.
"Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten", ist ein wichtiges Buch. Es sensibilisiert uns für die Lebensumstände von Flüchtlingen, macht deren Ängste und Hoffnungen spürbar und schließlich selbst betroffen und zornig. Am Schluss der 352 Seiten hat man das Bedürfnis, sich der großen Anklage von Martin Horváth gegen die derzeitigen asylpolitischen Zustände in Österreich anzuschließen, denn die starken Bilder verlassen auch nach der Lektüre nicht den Kopf.
Dieses Element ist nicht mehr verfügbar
Tipp:
- Martin Horváth ist am Montag, 27. August in FM4 Connected (ab 15:00 Uhr) zu Gast.
- Martin Horváth liest am Donnerstag, 6. September 2012, 19:00 Uhr, aus "Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten" (DVA Verlag) in der Hauptbücherei am Gürtel, 1070 Urban-Loritz-Platz 2a