Erstellt am: 22. 8. 2012 - 12:48 Uhr
Das große Holztragen
Ich musste Wien verlassen. Jedes Jahr Ende August muss ich meinem Vater beim Holztragen helfen. Ein Laster schüttet unseren Hof in Sofia mit mehr als 20 Kubikmeter Holz zum Heizen voll. Das sind mehr als 9 Tonnen Holz! Dann fängt das große Tragen an, unser traditionelles Familienteambuilding.
Drei Tage lang müssen ich, mein Vater und mein Bruder die schweren Holzstücke aussortieren und in eine Garage einordnen. Das ist keine einfache Aufgabe. Es wird erzählt, dass in einigen Teilen Bulgariens der Bräutigam von den Eltern der Braut immer noch nach seiner Fähigkeit ausgewählt wird, sein Holz gut zu schlichten. Macht er es sorgfältig und sieht danach sein Holzstapel gerade aus, dann wird er auch als ein guter Mann eingeschätzt. Sieht aber der Holzstapel wie der schiefe Turm von Pisa aus, wird er als eine nicht vertrauenswürdige Person eingestuft und kann die Hochzeit vergessen, so lange er sein Holz nicht normal ordnen kann.
Todor Ovtcharov
Zum Glück komme ich nicht aus der Gegend, sonst könnte ich nie eine Frau finden. Unsere Straße wurde schon längst ans Gasnetz angeschlossen, doch wir bleiben beim Holztragen. Wenn ich im November Rückenschmerzen habe, dann weiß ich, dass meinem Vater und meiner Oma im Winter warm ist.
Während ich Holz trage, versuche ich mir vorzustellen, was wäre, wenn ich in Wien geblieben wäre. Ich hätte da sicher endlich das Gratis-Freiluftkino vorm Rathaus besucht. Ich höre sogar das Summen von Anna Netrebkos Stimme. Oder ist das vielleicht eine Fliege, die es sich auf dem Holzstück, das ich gerade trage, gemütlich gemacht hat?
Todor Ovtcharov
Die Sommerhitze wird aber in das kalte Donauwasser verschwinden. Der Herbstregen wird wieder seine Symphonie auf die Wiener Gassen spielen und alle Zugausländer kommen zurück in ihre Lieblingstadt. Don't cry for me, Vienna, wir werden bald wieder zusammen sein.