Erstellt am: 17. 8. 2012 - 18:37 Uhr
"I feel this system crumbling"
„Ich spüre, dass dieses System zerbröckelt“, sagte Nadezhda Tolokonnikova, Mitglied von Pussy Riot, ehe die Richterin sie und ihre zwei Bandkolleginnen für zwei Jahre ins Gefängnis schickte. Es war einer der emotionalsten Sätze im Kontext einer zutiefst rationalen Schlussrede und zugleich einer der klügsten.
Aus der Härte des Urteils, das Pussy Riot erwartete, aus der Rückhaltlosigkeit, mit der die Autorität im Verlauf des Prozesses ihre Macht bewiesen hatte, in Rechtssprechung und medialer Wahrnehmung die Realität für ihre Zwecke zurechtzurücken, ja sogar aus der unbiegsamen Starrheit der Plexiglasscheibe, hinter die drei Musikerinnen sitzen mussten, sprach die Schwäche des bröckelnden Systems. Und auch seine Dummheit.
Schlimmer kann sich weder eine Regierung, noch eine Kirche entblößen, als ihre volle Gewalt gegen drei junge Frauen zu richten, deren zunehmend waghalsige Guerilla-Gigs in den Monaten vor ihrer Festnahme via Youtube bereits ein weltweites Publikum gefunden hatten.
Sagte übrigens auch Markus Müller-Schinwald heute in seinem sehr aufschlussreichen Interview mit Christoph Weiss in FM4 Connected:
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Heute vormittag, als noch vor der scheinbar endlosen Verlesung des Urteilswortlauts die Schuldigsprechung von Pussy Riot bekannt wurde, stach mir in der begrenzten, heimeligen Welt meiner Twitter-Timeline unter all den ebenso verständlichen wie vorhersagbaren Putin-böse-Boykottiert-Russland-Aussagen allerdings auch ein Tweet der Sängerin und Songschreiberin Mary Epworth ins Auge:
„I feel it's key that it's recognised that it's not specifically a feminist/punk issue they are fighting.“ - „Ich finde, es ist wesentlich, anzuerkennen, dass sie (Pussy Riot) nicht für eine spezifisch feministische bzw. Punk-Sache kämpfen.“
Und weiter: „Seeing it as solely a feminist issue misses how revolutionary they are. So powerful and inspiring.“ - „Die Sache einzig als feministisches Thema zu sehen, geht daran vorbei, wie revolutionär sie sind. So kraftvoll und inspirierend.“
Eine Aussage, die in ihrer dem Tweet-Format entsprechenden Verkürzung zunächst stutzig macht, aber ich glaube, ich weiß, worauf Epworth damit hinaus wollte.
Einerseits liegt im Kern des inkriminierten, von Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale gesungenen Songs „Jungfrau Maria, Jag Putin fort“ (ich kenne zugegebenermaßen nur die zirkulierende englische Übersetzung) eine ganz konkrete feministische Stellungnahme: „Mutter Gottes, werde zur Feministin“, heißt es da.
EPA/MAXIM SHIPENKOV
Darüber hinaus attackiert der Song (in dem übrigens auch eine Referenz an die heute ebenfalls von einem russischen Gericht für illegal erklärten Gay Pride-Paraden enthalten ist) aber vor allem die Verquickungen zwischen der orthodoxen Kirche und dem Putin-Regime – ein Thema, das der westliche Medienmainstream bisher kaum wahrgenommen hat (vielleicht weil dieser Schulterschluss nicht dem alten Ostblock-Bild der Kirchen als Hort der Opposition entsprechen wollte) und das sich mit den Idealen von Riot Grrrl oder Punk nur sehr begrenzt erfassen lässt.
Riot Grrrl war Anfang der 1990er mit seiner feministischen Agenda eine bewusste, nachträgliche Instrumentalisierung des politisch diffusen Modells Punk.
Was Pussy Riot machen, ist wiederum eine bewusste Instrumentalisierung der Instrumentalisierung. Alles an ihrem Auftreten deutet darauf hin, dass sie uns – die via Youtube Zuschauenden – mindestens genauso gezielt ansprechen wie die russische Öffentlichkeit.
Masha, Katya und Nadezhda (ich verwende die englischen Schreibweisen) verwenden musikalische und visuelle Codes, die die Pop-Außenwelt deuten und einordnen kann.
Nicht umsonst las ich von Pussy Riot das erste Mal vorigen Winter auf dem Collapse Board-Blog des Original-Riot Grrrl-Verfechters der ersten Stunde Everett True, der die Russinnen gleich enthusiastisch zu seiner neuen Lieblingsband erklärte.
Und das nicht zu Unrecht: Da dachten wir, die Rockmusik als Subversionsmodell sei längst vorbei und gegessen, und dann reichen ein paar gereckte Gitarrenhälse und – laut Richterinnenspruch – religionsfeindliche Beckenbewegungen plötzlich aus, um das Establishment in Angst und Schrecken zu versetzen.
Die Gefahr liegt nun in der Versuchung, daraus selbstgefällig auf die vergleichsweise Rückständigkeit der russischen Gesellschaft zu schließen. Selbst wenn Pussy Riots Musik und ihre Ästhetik zutiefst derivativ sind, wäre es ein großer Denkfehler, sie bloß als russische Version eines in der ach so freien westlichen Pop-Welt längst durchgespielten Phänomens zu verstehen.
Christiane Rösingers neulich hier formulierte Skepsis gegenüber dieser sich selbst gratulierenden Solidarisierung/Aneignung war dementsprechend angebracht, genauso wie die Unterstützungserklärungen von Madonna bis Paul McCartney in all ihrer öffentlichkeitswirksamen Nützlichkeit einiges an Anmaßung in sich trugen.
EPA/MAXIM SHIPENKOV
Mit all dem, was sie tun und sagen, verkörpern Pussy Riot nämlich – und so gesehen hat Mary Epworth völlig recht – ein komplettes revolutionäres Umsturzmanifest, also weit mehr als der individualistische Befreiungsgestus der Rock-Kultur, die situationistische Irritation des Punk oder die feministische Selbstermächtigung von Riot Grrrl je zu verlangen wagten.
Um den tatsächlichen, vollinhaltlichen Umfang ihres Programms zu präsentieren, brauchte es paradoxerweise genau das Forum, welches das Putin-Regime und die Orthodoxe Kirche ihnen in seiner sagenhaften Arroganz verliehen hat.
Niemand kann Pussy Riot je besser erklären als Masha, Katya und Nadezhda am 8. August in ihren unglaublich präzisen, vor intellektuellem Scharfsinn strotzenden Schlussstatements vor Gericht, deren englische Übersetzung hier nachzulesen ist. Allerhöchste Empfehlung.
Wie sagt Nadezhda Tolonnikova am Anfang ihrer Rede (meine Übersetzung):
„Im großen und ganzen sind hier nicht die drei Mitglieder von Pussy Riot angeklagt. Wenn es nur um uns ginge, wäre dieses Ereignis kaum so signifikant. Dies ist ein Prozess über das ganze politische System der russischen Föderation, die zu ihrem großen Unglück Freude daran zeigt, ihre eigene Gewalttätigkeit gegen das Individuum, ihre Gleichgültigkeit gegen die menschliche Ehre und Würde zu zitieren und dabei all die schlimmsten Momente der russischen Geschichte zu wiederholen.“
Sie übertreibt nicht. Weder Johnny Rotten noch Kathleen Hanna waren in ihrer eigenen Zeit und Umgebung je so bedeutend.
Genau genommen - und wer das für Übertreibung hält, möge ein Gegenbeispiel anführen - war nie zuvor eine Rockband politisch so gefährlich wie Pussy Riot heute (Und kurioserweise hat das mit der politischen Relevanz von Popkultur an sich rein gar nichts zu tun).
Hier ist ein Link zu ihrer heute veröffentlichten neuen Single.