Erstellt am: 16. 8. 2012 - 16:21 Uhr
Bitter End
Das FM4 Frequency Festival 2012
Mit den Friends und den Maccabees, Kraftklub und den Cribs, Tocotronic, Wilco, Jan Delay und Noel Gallagher hatte der eineinhalbte Frequency-Tag gut und reibungslos begonnen. Große Enttäuschung gab es allerdings, als die Headliner Placebo ihre Show nach nur einem Song abbrachen. Mehr Infos dazu weiter unten.
Friends: Brooklyner Blogstars
"It´s the beginning of a new day! A whole new day!" - Friends-Sängerin Samantha Urbani versteht, warum die Menschen an diesem frühen Nachmittag erst langsam in die Gänge kommen. Das Wetter ist vielversprechend, die Sonne blinzelt vereinzelt durch die Wolken, Regenschauer sind soweit keine in Sicht. Zwischen den aufgewirbelten Staubwolken vor der Space Stage hat sich die vielleicht größte Dichte an hochgeschnittenen Hot Pants, Hüten, spitzen Schühchen, Hippiehaarbändern des heutigen Tages versammelt, um die Brooklyner Blogstars Friends bei ihrem ersten Österreich-Gig zu begleiten. Soeben haben die vier mit - Achtung, Zaunpfahl! - "Manifest!" ihr Debütalbum veröffentlicht und Freund und Feind mit ihrer sehr zwingenden Mixtur aus Indiepop, Percussion-Getrommel, Funk und - live besonders sinnlich - R´n´B Ohrwürmer eingepflanzt.
Live funktioniert das ganz vorzüglich, Samantha räkelt und wiegt sich, sshhh-t, aaah-t und stößt spitze Schreie aus, die Synthesizerglocken klimpern, die Drumsticks fliegen über die Tom-Toms. Möchte nicht jeder gern einmal so auf einer Bühne klöppeln? "You like it smooth, I can see that", da hat sie recht; die Friends-Coverversion von Ghost Town DJs "My Boo" passt da besonders gut dazu. Samanthas Stimme kann die R´n´B-Sinnlichkeit der Neunziger mühelos beschwören, die Sexyness der Musik wird fast physisch greifbar, das merken auch die immer mehr werdenden Menschen vor der Bühne. Eine sehr gut angezogene, eine sehr gute Band.
The Maccabees
Eine Band, die ebenfalls ihr FM4 Frequency-Debüt feiert, sind die Maccabees aus London. Der Wavebreaker-Bereich ist nun schon ziemlich gut gefüllt, das erste Bier schmeckt unter Umständen vielleicht auch schon. Drei Gitarren, ein Bass, zwei Schlagzeuger, wobei einer hauptsächlich damit beschäftigt ist, aufs Samplepad zu dreschen, das macht eine sogenannte rasante Mischung und zeigt vor allem, was für ein herausragender Liveact hier zugange ist. Die Stimme von Sänger Orlando Weeks schwingt sich in die Höhe, während Gitarren und Schlagzeug darunter in atemberaubender Geschwindigkeit fangen spielen und sie am Boden verankern, wenn sie stellenweise vor lauter Gefühl davonzuschweben droht.
Von ihrem im Februar erschienenen, von Tim Goldsworthy of DFA-fame produzierten, dritten Album "Given to the wild" haben die Maccabees zahlreiche Songs im Programm, "Pelican" natürlich als krönenden Abschluss, aber auch davor bewegen immer mehr Menschen die Lippen zum Text. Die HiHats zischen mitunter schon sehr laut aus den Boxentürmen; der Moment, die Ohrstöpsel auszupacken, ist gekommen.
Kraftklub
Wenn man die Band Kraftklub nicht kennt, kann man sich eventuell trotzdem vorstellen, wie sie so klingt und denkt an Neonsonnenbrillen, Yippie Yippie Yeah und große Festivalbühnen. Erfrischend und phantastisch ist es umso mehr, dass die fünf Chemnitzer diese schon beim Soundcheck völlig im Griff haben und dass ihre Mischung aus Pop (ein wenig), Rock (viel) und Rap (charakteristisch) vor allem durch gesellschaftskritische Texte auffällt. In einheitlichen Outfits hauchen sie selbst Liebesliedern wie "Songs für Liam" etwas Protestcharakter ein.
"Zu jung für Rock´n´Roll?" Von wegen. Recht haben Kraftklub aber schon, wenn sie ein Grundproblem der Post- bzw. Popmoderne ansprechen, die Unmöglichkeit, zu rebellieren, wenn alles schon einmal da war. "Egal, wo wir hinkommen, unsere Eltern waren schon vorher hier." Diese Band steht auf keiner Gästeliste, will nicht nach Berlin, scheißt auf die Hipsterdisco und ist jetzt schon Headliner.
The Cribs
Auch die Cribs treten gegen Missstände an und wettern gegen eine "generische, oberflächliche und dumme Öffentlichkeit", wie Kollegin Ondrusova bereits ausführlicher erörtert hat. Musikalisch ist das Trio aus West Yorkshire dem Indie-Slackertum der neunziger Jahre verpflichtet und kratzt kurz vor der Abzweigung zur Eingängigkeit die Kurve. Hier ist eine Band, die wahrscheinlich richtig groß werden hätte können, die aber eine punkige Attitüde und leicht verschrobene Melodien dem großen Pop-Gestus vorgezogen haben und die Oberfläche ihrer Songs lieber schrammelig und rau hält. Indie-Hits wie "Hey Scenesters", das gleich zu Beginn ihres Frequency-Sets gespielt wird, fehlen trotzdem nicht. Man liebt oder man hasst die Cribs, meint Susi O., heute Nachmittag hätte man sich vor der Space Stage vielleicht etwas stärkere Emotionen wünschen können.
Im Zweifel für Tocotronic
Wenn schon Protest, dann richtig, und konsequenter, schärfer, punktgenauer als Tocotronic hat das im deutschsprachigen Raum kaum eine Band duchgezogen. "Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse", das sind starke Worte für den Anfang, aber so wie diese Zeile aus "Freiburg" kann praktisch jede Tocotronic-Zeile Slogan, Aphorismus, Lebensmotto sein und macht die Band, diesen ewigen besten Freund, wenn alle besten Freunde versagen, auch zu einem perfekten Festivalact. Alte Lieder, Lieder von der Desillusion ("Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen"), prophetische Lieder angesichts der Weltwirtschaftssituation ("Mein Ruin"), eine Ode an die Heimatlosen ("Aber hier leben, nein danke"), eine Hymne gegen die reaktionären Kräfte in Österreich, die viel zu viel politische Macht haben ("Die Folter endet nie") - dass die Hamburger auf der großen Bühne spielen, zu einer guten Zeit, ist richtig und wichtig, und dass sie so angenommen, geliebt und gefeiert werden, lässt einen all die Windböen und den Staub in den Augen vergessen. Was alles falsch läuft in diesem Leben, mit Tocotronic im Rücken kann man es ein bisschen besser ertragen.
Wilco
Und Wilco hat sich Susi Ondrusova angeschaut:
"We might not have the biggest audience but we´ll have the tallest!" meint Jeff Tweedy, der gutgekleidete Wilco-Frontman während des Gigs. Auf der Green Stage dröhnen die Bässe durch die Galaxie und auf der Space Stage steht eine bescheide Band der Marke "alternative country rock". Tja, es ist nicht leicht auf einem Fließband der Guten-Festival-Laune als geschichtsträchtige Band aus dem scheinbaren Nichts aufzutauchen. Als sich Jeff Tweedy 1987 seine abgefahrene Country Rock Formation Uncle Tupelo gegründet hat, dürften die meisten der BesucherInnen vom Festival nicht wirklich an Musik interessiert gewesen sein oder auf der Welt gewesen sein.
Mit Wilco ist Jeff Tweedy seit der Mitte der Neunziger Jahre Garant für Rock mit Tiefgang. Das Publikum mittleren Alters aus den mittleren Reihen, das andächtig an seinen Lippen hängt, weiß, warum es gekommen ist und freut sich ob der fast schon intimen Atmosphäre eines Konzertes vor einer Schar Placebo-Fans, bei denen sich Jeff Tweedy auch für die "patience" bedankt. Der Maccabees Frontman, der sich im mittleren Konzertfeld versammelt hat, klatscht euphorisch mit, als Wilco ihr Set beenden und sich winkend von ihrem Publikum verabschieden. Ein sehr schöner emotionaler Ausflug, ein Moment der Entschleunigung, bevor Jan Delay mit seiner Disko No.1 Truppe den Gute-Laune-Zug wieder auf die "Seid ihr alle da? Lasst eure Hände sehen!"-Party-Schiene führt.
Back to the Futuer mit Jan Delay
Christoph Kobza übernimmt:
"Hoffe ihr habt damals nicht die Setlist notiert", sagt Jan Delay mitten im Set und setzt fort: "Eigentlich wollten wir diesen Sommer nicht mit der Show auftreten". Damals war vor zwei Jahren, auf dem FM4 Frequency. Und seit damals hat er auch nichts Neues produziert. Macht nichts, denkt sich das Publikum, denn Jan Delay macht Gute-Festival-Laune und tanzt. Neben einer bis ins letzte Detail durchchoreografierten Bühnenshow mit BackgroundsängerInnen in Pailletten-Cocktailkleidchen über eine Bläsersektion in Maßanzügen und dem Eißfeldt im Dandy-Schick mit Hut und Schlips über Publikumsanimationen à la Stoptanzen (auch Freeze genannt) und Medleymarathon mit Hooks von Missy Elliott, Whitney Houston, Backstreet Boys, Deichkind oder Duck Sauce. Solide, aber na ja, was Neues wäre auch mal wieder schön.
Noel Gallagher´s High Flying Birds
Also, es ist ja nicht so einfach, oder anders gesagt, Liam Gallagher hatte es vergangenes Jahr nicht so einfach, als er sich auf der großen Frequency-Bühne behaupten musste. Was soll nun also Noel machen, lange Zeit Hauptsongschreiber der gemeinsamen Band, der ebenso "wie Oasis, nur ohne Hits" - Zitat L´Heritier, das man sich gern selbst auf die Fahnen schreiben würde - dasteht? Er macht das, worin er Meister ist und immer war, spielt perfekte Indiepopsongs, die allesamt Hits wären, wenn, man duckt sich, es zu sagen, sie das denn wären. Da ist Noel samt Band, eingespielt und wunderbar, mit eingängigen und stimmigen Nummern, und doch kommt man nicht umhin zu denken, dass die diesjährige Single "Everybody´s on the run" von der Strophen-Melodie und dem Gestus her nicht ganz, äh, unähnlich ist zu, sagen wir, "Stop crying your heart out" damals. Und dann überlegt man unvermittlet, wie es wäre, wenn zwischendurch doch eine, vielleicht eine kleine, nicht gerade "Wonderwall", aber vielleicht eine der vielen anderen großen, ewigen Oasis-Hymnen erklingen würde, und hat bei dem Gedanken Angst, dass Noel hinter der nächsten Ecke lauert und einem die Zähne einschlägt. Es ist ja auch nicht so, dass er bei den High Flying Birds auf seinen berühmten Namen im Titel verzichten würde. Das Konzert ist jedenfalls sehr gut, und dafür, dass man zu dieser Uhrzeit auf diesem Festival bei diesem Slot bei diesem Typen ganz leise auf "ein bisschen mehr" hofft, darf man sich ein wenig selbst verurteilen. Eine Spur lauter schimpfen darf man immerhin über die Tatsache, dass sich Noel in seinen wenigen Zwischenansagen konsequent und ausschließlich bei Vienna bedankt. Schließlich passiert es dann doch noch, und "Whatever" und "Don´t look back in anger" laufen als Zugabe, und Noel hat alle Hände und alle Herzen vor der Space Stage fest im Griff. Kinderspiel, na also.
Placebo ABGEBROCHEN!
Placebo kamen für einen einzige Song auf die Bühne ("Kitty Litter" von ihrem letzten Album "Battle for the sun"), sahen und gingen wieder. Wie Bassist Stefan Olsdal in astreinem Deutsch erklärte, sei "sein Bruder und Sänger" Brian Molko "sehr krank" und könne unmöglich das Konzert weiter spielen. Die Band hat einen Ersatz-Gig für nächstes Jahr versprochen.
Zurück blieben zahlreiche enttäuschte Gesichter und ein Paul Kalkbrenner, der auf der Green Stage mit zahlreichen zusätzlichen Besuchern zu rechnen hat. Die Völkerwanderung von der Space zur Green Stage hat dann erstaunlich zivilisiert geklappt. Die Wege dazwischen waren zwar verstopft, aber die Menge blieb geduldig. Genau für solche Fälle, also plötzliche Absage oder Evakuierung einer Bühne, gibt es einen Notfallplan, innerhalb einer Viertelstunde war eine Verstärkung an Sicherheits-Menschen vor Ort. Für ganz nach vorn bei Placebo nach ganz nach vorn bei Kalkbrenner hat es trotzdem nicht gereicht.
Update
Placebo haben ein offizielles Statement herausgegeben:
Radio FM4
"Placebo regret to report that Brian Molko was taken unwell with a virus today, he had felt poorly all day and the adrenaline rush from the crowd as they walked on stage disorientated him and he felt unable to continue."