Erstellt am: 9. 8. 2012 - 13:53 Uhr
All Together Now
Jetzt ist das Wiener Popfest zehn Tage vorbei, und meine Gedanken haben sich schon ein bisschen gesetzt. Wenn man ständig von anderen Medien (Danke, andere Medien, ernsthaft!) gefragt wird, was für einen Sinn das alles haben soll, beginnt man sich Begründungen für Dinge auszudenken, die man eigentlich nur rein instinktiv für richtig hält.
Wirklich ahnen, worum es gegangen ist, kann man aber erst im Nachhinein. Schließlich erklärt sich eine Veranstaltung wie das Popfest, die sich nicht anmaßt, den KünstlerInnen inhaltliche Vorgaben aufzuzwängen, erst in ihrem Verlauf.
Da gab es etwa am Samstagnachmittag einen Moment im Panel-Gespräch zwischen Thomas Edlinger und Christian Werthschulte vom deutschen Magazin Testcard, als das Thema des „Überlebens in der Popkultur“ von der Frage des „Wie?“ fließend in die des „Wozu überhaupt?“ überging.
Robert Rotifer
Schließlich war Popkultur immer gleichzeitig ein Produkt des Konsumkapitalismus und – von „Satisfaction“ über „Material Girl“ bis „Pass the Courvoisier“ - ein manchmal kritischer, manchmal affirmativer Kommentar dazu. Und passend dazu reflektiert das Ende ihres Wirtschaftsmodells auch das Ende des gesamten Konsumkapitalismus.
Christian Werthschulte hat das schlauer gesagt, ich paraphrasiere nur, bzw. füge selbstherrlich hinzu: Wenn dem Finanzkapitalismus zuliebe die ehemals heilige Kuh der Kaufkraft geschlachtet wird, ändern sich die Voraussetzungen für Popkultur auf eine noch viel tiefer gehende Weise als durch den Wandel ihrer Formate, nämlich inhaltlich.
Wir bewegen uns schließlich alle in einem lose definierten Selbstverständnis. Sowohl die Idee des Rock'n'Roll als auch die des mit Kunst kokettierenden Pop wurde historisch als eine tendenziell antiautoritäre, antirassistische, gelegentlich ausgesprochen anti-homophobe, insgesamt also grob gesagt als „links“ verstanden. Trotzdem war die Popkultur immer auch williges Propagandavehikel des Mythos der individualistischen Selbstbestimmung in der sogenannten Freien Welt.
Spätestens nach fünf Jahrzehnten hat das vom Rock'n Roll idealisierte prekäre Bohemiensleben aber zusehends seinen gegenkulturellen Glanz verloren, stellt es sich doch nicht mehr als Alternative zum langweiligen soliden Job dar (den es längst nicht mehr gibt), sondern bloß als glorifizierte Variante der stinknormalen, unfreiwillig „selbständigen“ Berufsrealität. Die alte Verherrlichung des einsamen Rebellen klingt dementsprechend schal, die dazugehörende Lingo bedeutungslos bis verlogen.
Die vom Pop betriebene Verherrlichung des jeweils Neuen als ständiger Kaufanreiz ist wiederum auch nur eine Speiche desselben alten Hamsterrads. Während einem früher Bands erst erzählten, dass sie keinem Trend angehören wollten, sobald sie selbst auf dem Wellenkamm ritten und in den sich nähernden Abgrund stierten, ortet man heutzutage unter intelligenten MusikerInnen eine grundsätzliche Ablehnung des Typus „buzz band“. Die Band als dynamisches Start-Up bzw. der aufstrebende Popstar als ultimative Ich-AG sind in der von verdeckten oder offenen Marketinginteressen durchzogenen Pop-Landschaft nicht mehr mit glamourös weltfremdem Eskapismus oder heroischer Outlaw-Pose vereinbar. Magische Verheißung sieht anders aus als ein Testimonial für eine High-Street-Marke.
Als alter Pop-Verfechter wittere ich zwar reflexartig die Gefahr des bourgeoisen Elitarismus in der Gegenreaktion der puristischen Kommerzverweigerung, andererseits verlangt der bröckelnde Mythos der Cultural Industries nach einer neuen Positionierung, und die ist offenbar gerade in vollem Gange.
Robert Rotifer
Auch dazu hatte Christian Werthschulte übrigens eine interessante Sicht anzubieten. Beim Konzert von welle wien war ihm aufgefallen, wie losgelöst von den üblichen, festgefahrenen Rollenverteilungen einer Band dieses Kollektiv agierte. Darin sah er eine Art der Reaktion auf den Alltag der entsolidarisierten Gesellschaft.
Zwischenanmerkung: Eine der sinnlosesten Beschwerden ist immer die über die „Überinterpretation“. Wenn einE KritikerIn einmal ein argumentatives Riff gefunden hat, dann soll er/sie das gefälligst ausspielen. Sobald ein Song veröffentlicht, ein Konzert gespielt wird, darf und muss frei interpretiert werden, natürlich auch über den Bereich dessen hinaus, was im Beschriebenen konkret erkennbar ist. Sonst kommen wir ja – logisch gedacht – nie weiter.
Was Werthschulte dabei nicht wissen konnte, was seine Sicht von Welle Wien aber noch bestätigt, ist, dass in dieser aus verschiedensten Bands – von Tanz Baby über Bo Candy and his Broken Hearts bis zu den Happy Kids – zusammengesetzten, aus Prinzip provisorischen Formation als hauptsächlicher Songwriter Kristian „Mu“ Musser fungiert. Der hatte die Veranstalter und mich schon vor dem Popfest wissen lassen, dass er selbst gar nicht dabei sein können würde (er hatte einen Job bei den Olympischen Spielen zu erledigen). Seine Abwesenheit, erklärte er, sei aber völlig unerheblich. Welle Wien könne in allen erdenklichen Besetzungen auftreten.
Nun ist die Idee der Band als offenes Kollektiv zwar keine ganz neue, weil bereits zur Perfektion durchgespielt vom Hip Hop bis zum Wyrd Folk, und die Durchlässigkeit der diversen Band-Line-Ups, deren Gesichter immer wieder in den verschiedensten Kontexten auftauchen, war schon in den ersten zwei Wiener Popfestjahren ein klar feststellbarer roter Faden.
Aber dieses Popfest war wohl das erste, bei dem die konventionelle, fixe Bandbesetzung – ohne herbeigerufene Gäste oder flexibles Gefüge – sich bereits wie ein anachronistischer Ausnahmefall anfühlte.
Wenn etwa das Trojanische Pferd selbstlos beschloss, die große Bühne mit dem Vielklang befreundeter MusikerInnen zu füllen, wenn Monsterheart sich mit Die Eternias zusammentat oder Sixtus Preiss sich mit Mitgliedern von Kompost 3 vereinte, dann geschah das schon so selbstverständlich, dass man als Zu-Früh-Geborener den Jüngeren überhaupt erst erklären muss, wie weit unsereiner früher einmal von diesem Geist der Zusammenarbeit entfernt war.
Kaum mehr vorstellbar der einstige Bühnenneid unter KonkurrentInnen oder die auf jeden Auftritt folgenden Verbalattacken der „Jazzpolizei“ (der extra zum Bekritteln der KollegInnen erschienenen MusikerInnen, die einem nach jedem Gig berichteten, was man falsch gemacht hatte). Ja kaum spürbar der Konkurrenzgeist an sich, falls es den überhaupt noch geben sollte.
Robert Rotifer
Besonders eindringlich offenbarte sich das allgemeine Gefühl der Kollektivität am letzten Abend im Wien Museum bei Loose Lips Sink Ships, dem zur Band verwachsenden gemeinsamen Projekt von sechs SongwriterInnen: Cellistin Meaghan Burke, Violinist Matthias Frey (alias Sweet Sweet Moon), Gitarrist David Schweighart (sonst u.a. auch bei Tupolev), Gitarrist Simon Usaty (sonst u.a. bei Protestant Work Ethic), Werner Kitzmüller und Mimu Merz, allesamt großartige Stimmen, die gegenseitig ihre Songs interpretieren oder die anderer covern, mit ständig wechselnden Hauptrollen bzw. im gleichberechtigten Harmoniegesang, also die gelebte Verwandlung introvertierter EinzelgängerInnenmusik in ein völlig hierarchiefreies Miteinander.
Und danach Mark Hamilton alias Woodpigeon mit seinem großen Chor, geleitet von einem Mitglied der fabelhaften Pop:Sch, die sich ihrerseits nicht grundlos, ihres sozialen Kontext bewusst als „queer jetset electro-pop for the working poor“ definieren.
Am Ende der ersten Zugabe verschwand Mark Hamilton dann völlig im Chor, um gemeinsam was von Mozart zu singen. Selbst wenn er kreisende Teller jongliert hätte, wäre er nicht weiter entfernt von der Vorgabe eines Woodpigeon-Gigs gewesen.
Und genauso soll es (unter anderem) sein beim Popfest. Selbst Squalloscope kam als einziger tatsächlicher Solo-Act des Abschlussabends ganz genauso kollektivistisch rüber, indem sie sich auf einen Tisch setzte und das Publikum so auf die eigene Ebene holte. So einfach geht das heutzutage, wo keiner mehr Angst hat, ein Hippie geschimpft zu werden.
Womit wir wieder beim vorangegangenen Punkt angelangt wären: Die Infragestellung der Hierarchien und des Konkurrenz- und Karriereprinzips im Pop wurde tatsächlich schon oft erprobt, scheiterte aber immer an der an Verwertung gekoppelten Verbreitung.
Für die Massenwirkung brauchte es die Musikindustrie, und die brauchte zur Profitmaximierung die Konzentration auf möglichst wenige, möglichst große Namen – siehe das klassische Beispiel der Mitte der Neunziger aufgetauchten Figur des Superstar DJ als paradoxes Endprodukt der Idee einer vom Starprinzip befreiten Dance Culture.
Der Unterschied ist, dass seit jenen fetten Tagen der Branche die Perspektive der Verwertung praktisch völlig weggefallen ist.
Soll heißen: So großartig Loose Lips Sink Ships an jenem Abend auch waren, die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich demnächst über die Aufteilung eines großen Major-Label-Vorschusses unter sechs Leuten streiten werden müssen, geht gegen null, das wissen sie selbst wohl am Besten. Ihrer Musik kann das aber nur nützen.
Klar: Die (relativ) neue Brotlosigkeit des Pop ist nichts Positives, die alten Theorien der Verelendung als Basis für die Revolution haben noch nie funktioniert, und selbst die billiger gewordenen Produktionsmittel helfen nur jenen was, die sich die freie Zeit zum Musizieren leisten können.
Aber die Chancen darauf, dass Pop, ja vielleicht sogar die alte Rockmusik, am Ende doch noch ein anderes, für die Zeit nach dem Konsumkapitalismus brauchbares Eskapismus- und Rebellionsmodell formulieren könnte, sehe ich nach dem dritten Wiener Popfest optimistischer denn je.
PS: Danke an alle beim Popfest aufgetretenen KünstlerInnen und an alle, die ihnen zugehört haben, die Auswahl der hier Hervorgehobenen war rein inhaltlich bedingt.