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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

11. 8. 2012 - 15:39

Der Geist, den ich rief

"Weitlings Sommerfrische" von Sten Nadolny ist eine autobiographisch angehauchte Geisterreise in die Jugend, ein cleveres Vexierspiel zwischen Realität und Wunschtraum.

Was würdest du tun, wenn du in eine Zeit zurückreisen könntest, in der du noch jünger warst? Würdest du die gleichen Entscheidungen treffen? Oder würdest du versuchen, dein Leben zu ändern?

Pragmatische Spielverderber, die solche Gedankenexperimente als bloße Zeitverschwendung empfinden, entgegnen auf diese Fragen knapp: Natürlich würdest du alles genauso machen wie damals, da du nur aufgrund deiner damaligen Erfahrungen und Möglichkeiten entscheiden kannst.

Was aber, wenn du all deine Lebenserfahrung, all deine Erkenntnisse in die Vergangenheit mitnehmen könntest? Der preisgekrönte deutsche Autor Sten Nadolny versucht sich in seinem neuesten Roman "Weitlings Sommerfrische" mit ironischem Witz und philospohischer Leichtigkeit dieser Frage zu nähern.

Sommerfrische in die Vergangenheit

Eigentlich wollte der pensionierte Richter Wilhelm Weitling nach langer Seeabstinenz nur einen kurzen Segelturn unternehmen. Schließlich hat ihn die Sommerfrische von Berlin zurück zu seinen Geburtsort Chieming geführt. Doch als der betagte achtundsechzigjährige Richter in seinem kleinen Boot über den Chiemsee schippert, zieht plötzlich ein Unwetter auf. Auf dem an sich ruhigen Gewässer türmen sich Wellen auf und begleitet von ohrenbetäubendem Donner schlägt ein gleißend heller Blitz ein und versetzt Weiltling in einen geisterhaften, körperlosen Zustand.

Buchcover Sten Nadolny "Weitlings Sommerfrische"

Piper Verlag

Sten Nadolnys neuester Roman "Weitlings Sommerfrische" ist im Piper Verlag erscheinen.

Während der Geist Weitling seinen Überlebenskampf von oben betrachtet bemerkt er, dass er in der Zeit zurückgereist ist und eigentlich sein sechtzehnjähriges Ich, den jungen Willy beobachtet. Damals verunglückte auch er am Chiemsee, wobei nur ein paar Schrammen und ein großer Schreck die Folge waren. Verwirrt und im wahrsten Sinn des Wortes nicht Herr seiner Sinne begleitet der alte Richter sein jugendtliches Ich durch Schulalltag, sieht Willy bei vorsichtigen Annäherungsversuchen an die Dorfschönheit zu und findet sich in den damaligen familiären Auseinandersetzungen und Versönungen wieder.

Doch irgendetwas ist seltsam, decken sich die Erinnerungen des alten Richters doch nicht immer mit den Beobachtungen. Beginnen seine geisterhaften Kommentare etwa, seine Lebensgeschichte zu verändern? Und wenn er wirklich ein Geist auf Sommerfrische sein sollte, wie kommt er wieder in die Gegenwart zurück? Ist alles etwa nur ein kindlicher Wunschtraum und er erwacht im tösenden Sturm am Chiemsee? Oder ist Richter Weitling gar schon gestorben und sieht sein Leben wie ein Film vor seinem geistigen Auge vorüberziehen?

Der Richter und sein Schriftsteller

Weitere Leseempfehlungen:

Was erzähltechnisch als recht knöcherne Fingerübung beginnt, entwickelt Sten Nadolny zu einem vielschichtigen, irrwitzigen und atmosphärisch dichten Roman, der das übliche Zeit- und Raumkontinuum sprengt. Bekannt für seine genauen Schilderungen, weltbestsellerisch in "Die Erfindung der Langsamkeit" nachzulesen, hat Nadolny durch den utopischen Kunstgriff der geisterhaften Selbstbeobachtung seine autobiographischen Erinnerungen erfrischend in die Erzählungen hineinverwoben. Der Autor selbst ist wie die literarische Kunstfigur Richter Wilhelm Weitling in Chiemingen aufgewachsen, ebenfalls als Sohn eines Schriftstellerehepaars. So dürfen bei all den Reflexionen über die Jugend auch subtile Seitenhiebe gegen den Literaturbetrieb und den immer ersehnten schriftstellerischen Erfolg nicht fehlen.

Portrait Foto Sten Nadolny

Eckhard Waasmann

Das alles verpackt Sten Nadolny mit unglaublicher Leichtigkeit zu einem tiefsinnigen Philosophie-Experiment. Wenn auch nicht sofort ersichtlich, kreist die Geistergeschichte neben ihrem "Zurück in die Zukunft"-Touch um nicht weniger als die großen Themen Glauben, Gottesexistenz und die Kraft der Liebe. Ganz nebenbei scheint der deutsche Autor mit wiedergewonnener Fabulierlust uns die Erklärung für seinen schriftstellerischen Werdegang unterzujubeln. "Weitlings Sommerfrische" besticht weiters durch seine unterschwellige Spannung, exzentrische Erzählstruktur, mehrschichtigen Perspektivenwechsel und gelungenen Schlusspointen. So ist der neue Nadolny weit mehr als nur ein unterhaltsamer Strandroman für die eigene Sommerfrische.