Erstellt am: 4. 8. 2012 - 13:54 Uhr
Sommerfrische
Wie immer um diese Zeit verlässt der Berliner gerne die Stadt, um auf dem Land die Sommerfrische zu genießen. Allzu frisch ist es im badischen Südwesten nahe der französischen Grenze allerdings nicht. Schwülwarm sind die Hundstage im Hochsommer, der Mähdrescherzeit. Wie riesige schwerfällige Insekten kriechen die großen Landmaschinen über die Felder, hinterlassen im weiten Umkreis riesige Staubwolken, kleingehäckseltes Stroh flittert in der heißen Luft. Sonst gibt es nicht viel Neues, ein Outlet-Center hat im Elsass eröffnet und der Kreisverkehr am Dorfeingang ist endlich fertig. Daneben entsteht ein neuer Aldi- und Drogeriemarkt. Die Dorfbewohner wurden befragt und haben sich das so gewünscht.
Rösinger
Viel geheiratet wird im Juli und Anfang August, schon mit Zwanzig geht es los. Ende Zwanzig sind dann alle unter der Haube. Es gibt zwar kein Nachtleben und keine Bars, aber es mangelt nicht an Geselligkeit und gesellschaftlichen Anlässen. Ständig muss etwas geprobt werden für den Polterabend eines Vereinsmitglieds, für den Ausflug in das Partnerdorf in Italien, dann hat wieder jemand Geburtstag, nach größeren Feiern gibt es ein „Restle-Essen“, es gibt Fischerfeste, Altrheinfeste, öffentliche Grillabende.
Das Leben des Sommerfrischlers spielt sich am See ab. Der "Hundesee" ist ein wilder Baggersee, ohne Umzäunung und Einrittsgeld. Am Wochenende kommen auch aus dem nahen Baden-Baden Leute mit ihren Hunden zum Schwimmen her. Aber unter der Woche ist man dort manchmal ganz alleine im Sommerglück. Sehr oft ist eine Frau um die Sechzig mit einem kleinen weiß-verwuschelten Schoßhündchen da, es leidet an einem Bandscheibenvorfall und sie geht so oft wie möglich zu Therapiezwecken mit ihm schwimmen. Die Geschichte kennt jeder am See, Hundebesitzer sind kommunikative Menschen und kommen gerne miteinander ins Gespräch.
Eine Mädchenclique spielt Wasserball, sie heißen Maria, Sandy, Kimberley, die anderen Namen hört man aus ihrem aufgeregten Geschnatter und den spitzen Vergnügensschreien nicht heraus. Jeremy darf als einziger Junge mitmachen. Er tut es hochvergnügt, hält seinen noch kindlichen Babyspeckkörper tollpatschig, aber glücklich schnaufend über Wasser, strahlt aber über beide dicke Backen, glücklich, in der Mädchenschar akzeptiert zu sein. Er scheint ein bisschen jünger als die Mädchen, ist aber wohl in der gleichen Klasse. Aber Jungs sind in dem Alter - und manche ein Leben lang - ja ein bisschen hinten dran.
Die jungen Grazien unterhalten sich über Bikinioberteile, machen ungelenke Turnübungen, beurteilen wie strenge Preisrichterinnen die Eleganz der Vorführung. Dann reden sie von Jungs, und übers Küssen und was welche Jungs über welches Mädchen gesagt haben: „Die eine hat Busen, die andere hat einen Arsch“. Jeremy schweigt dazu.
Radio FM4/Rösinger
Die Abende des Sommerfrischlers verlaufen recht ruhig. Man ist ja auch rechtschaffen müde nach so einem Urlaubstag, müde vom vielen Schwimmen und Radfahren, mit dem Hund gehen, draußen sein. Abends kommt immer Olympia, es wird das besprochen, was schon tagsüber bei SpiegelOnline stand: die Schwimm-Blamage, der Badminton-Skandal, der Fauxpas bei der Reiter-Berichterstattung, der Eklat um die rudernde Nazibraut. Dazwischen stundenlange Sportvorführungen.
Immer wieder kommt mir das alte Tocotronic-Lied in den Sinn:
„Ich wünschte ich würde mich für Tennis (wahlweise Hockey, Rudern, Badminton, Fechten, Bahnradfahren ) interessieren “. Kann man sich zwingen, Sport-Fan zu werden? Das ganze Fernsehprogramm leidet unter Olympia. Zum ersten Mal seit Bestehen der Serie fiel die Lindenstraße am Sonntag aus. Meistens kommt sowieso Schwimmen. Wie viele Schwimmarten es gibt! Kraulen, Brust, Schmetterling, Freistil, vorwärts und rückwärts, alleine und in der Staffel. Und dann noch verschiedene Distanzen! Marathon! Männer und Frauen! Es nimmt kein Ende. Bei den Wettkämpfen kann man sich mit viel gutem Willen noch in eine Art künstliche Spannung hineinsteigern.
Radio FM4/Rösinger
Schlimm sind die hirnlosen Interviews mit den Sportlern. Völlig am Ende nach ihrer Höchstleistung, müssen sie in hingehaltene Mikrofone japsen und dumme Fragen beantworten: „Wie macht man das, immer wieder punktgenau die Leistung abrufen?“ Oder: „Woran hat es gelegen, hat die Konzentration gefehlt?“ Am Schlimmsten sind die Fragen an die Medaillengewinner: Wann haben sie gemerkt, dass heute ihr Tag ist, dass alles stimmt? Schaut man bei so einem Kampf dem Gegner in die Augen? Was fühlt man, wenn man auf dem Treppchen steht und die deutsche Nationalhymne erklingt?“
„Was ein Glück, dass ich keine Olympionikin bin!“, denkt die Sommerfrischlerin in solchen Momenten und macht sich zur Nachtruhe bereit.