Erstellt am: 31. 7. 2012 - 17:00 Uhr
Schreiben für die Außenseiter
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"Einfach hat er's nicht, oder sie oder es..." stellt Frau Berg in den Raum und meint damit ihre neueste Hauptperson. Toto ist - wie der Name durchaus impliziert - eine Art gänzliches Wesen. Weder Mann noch Frau, oder eben beides. Im Buch wird Toto als geschlechtslos beschrieben (dabei anfangs vor allem er genannt), in der Realität wäre er intersexuell. Sibylle Berg wollte ihre Figur ohne geschlechtsspezifischen Kontext gelesen wissen, daher dieser literarische Dreh. Wegen ihr brauche es überhaupt keinerlei sexuellen oder Geschlechtszuschreibungen, "ich würde das alles verbieten", setzt sie hinzu.
Herangewachsen wird Toto aussehen wie eine große, weiche, üppige Melange aus Engelchen, Buddha und Antony von Antony & The Johnsons. Zudem wie letzterer mit einer einzigartigen Singstimme ausgestattet, besitzt Toto auch noch eine unendlich gütige Freundlichkeit. Er ist gewissermaßen das Gute in Person. Dennoch wird es kein wunderbares Leben werden. Toto ist so verschieden, dass er bei anderen Menschen nur Hass und Abscheu, mitunter auch Gewalt hervorruft.
Undank
Schon Totos Start ist denkbar ungünstig. Hineingeboren in einen kalten Sommer Mitte der 1960er, dazu im sozialistischen Teil des Landes, Vater unbekannt. Auch die Mutter wird ihn bald aufgeben, so wie später ihr eigenes Leben. Toto wird in grauenhaften Kinderheimen und Pflegefamilien aufwachsen und in nicht besseren, weiteren Umständen größer werden. Die Lust am Leben wird ihn dennoch nicht verlassen. Nur selten kreuzen dabei Menschen Totos Weg, die nicht gänzlich garstig zu ihm sind oder die er zumindest so einschätzt. Wie etwa Kasimir.
Dieser ist gewissermaßen Totos Kehrseite; und eine gegenseitige lebenslange Obsession.
Ihr Toto passe in keine Norm, keine Schublade und so etwas mache die Menschen wuschig. Die drehen durch, wenn sie irgendwas nicht benennen könnten, meint Frau Berg. Das scheine die eigenen Lebensentwürfe zu bedrohen, wie sonst könne frau sich diese Beäugung eines vermeintlich anderen erklären.
Berg-Predigen
Hanser Verlag
Sibylle Bergs "Vielen Dank für das Leben" ist im Hanser Verlag erschienen. Leseprobe hier.
Der Roman hat den autorin-typischen Witz plus Satire, aber auch etwas märchenhaftes an sich. "Vielen Dank für das Leben" ist eine Art Parabel übers Leben. Und es ist zugleich quasi Weltgeschichte aus Berg'scher Sicht. Die Handlung setzt 1966, mit Totos Geburt ein und endet 2030 - inkludiert also auch ein wenig Sciene Fiction.
Sibylle Berg meint im Interview, sie hatte die Absicht, die Zeit zu untersuchen, in der sie lebt. Diese Abfolge aus Tagen, die irgendwann Geschichte sein wird. Zum einen. Zum anderen wollte sie ein Denkmal setzen für alle, die anders sind, die an der Welt leiden könnten. Eigentlich, überlegt sie, treffe das auch auf einen Gutteil jener ihrer LeserInnen, die sie kenne, zu. Und für alle, die irgendwie "Daneben-Stehen", ist dieses Buch eben.
Ach, lacht sie, ein bisschen Liebe wolle sie natürlich auch predigen; Berg-predigen also. Apropos: Die DDR kommt wie so oft bei Sibylle Berg gar nicht gut weg. "Vielen Dank für das Leben"-Protagonist und Autorin teilen ja das gleiche Schicksal; im Osten geboren, dann eine Ausreise/Flucht in den Westen. Denn Rest muss frau selbst lesen.
Bleibt noch eine Frage. Würde die Autorin selbst auch gerne jemanden Danke für das Leben sagen? Eine schwierige Frage, meint Frau Berg. Es gäbe immer wieder Momente, wo sie dankbar sei, aber nicht wisse, bei wem sie sich bedanken sollte. Sicher nicht bei den Eltern, auch bei keinem Gott - vielleicht könne sie einfach "Danke, Bylle" murmeln?
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Sibylle Berg im Interview
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