Erstellt am: 28. 7. 2012 - 15:42 Uhr
Ich seh', ich seh', was du nicht siehst
Du findest immer jemanden, der dir sagt, er hat einen Geist gesehen, aber den Geist selbst siehst du nie.
Jeanne Degraa
Für ihr neues Buch "Geisterreise" hat sich Schriftstellerin Marie Pohl auf die Suche nach Geistern begeben und ist dafür um die Welt gereist.
Die Geschichten, die sie dabei gesammelt hat, erzählen allesamt vom Jenseitigen und Übersinnlichen, von unerklärlichen Phänomenen, die selbst aufgeklärte Menschen gleichsam schaudernd wie fasziniert zurücklassen. Mit Science Fiction, Horror oder Esoterik hat das aber glücklicherweise nichts zu tun.
Orgiastische Rituale
Maries Reise beginnt in Havanna, Kuba. Dorthin ist sie geflogen, um eine alte Liebe wieder zu treffen. Doch der Mann heiratet eine andere und Marie gelangt durch eine neue Bekanntschaft in den Süden des Landes, um an einem Santería-Ritual teilzunehmen. Es verläuft genauso orgiastisch wie es sich ahnungslose Europäer in ihren klischeehaftesten Vorstellungen nur ausmalen können: mit geschlachteter Ziege, tranceartigen Tänzen und Gesängen, Kräuterzauber und Opfergaben für die Yoruba-Gottheiten. Für Außenstehende schwer zu verstehen, für die Kubaner gelebte Alltagskultur. Inmitten dieses Rituals trägt eine Priesterin Marie auf, den Geist der Afrikanischen Königin zu suchen.
Diese mysteriöse Prophezeiung wird zum Ausgangspunkt für eine Reise, auf der sie sich ganz von ihrer Intuition leiten lässt. In Irland hütet sie ein Spukhaus, in Ghana lebt sie mit einem Fetischpriester und unsichtbaren Zwergen im Dschungel, in Deutschland interviewt sie einen Zauberer und in New York begleitet sie Geisterjäger auf ihren nächtlichen Einsätze.
An all diesen Orten hofft Marie, endlich selbst einen Geist zu sehen. Mit ihren eigenen Augen. Also fordert sie unerschrocken alte Legenden und Mythen heraus, wird dabei aber stets auf allzu Menschliches zurückgeworfen.
Fluch und Segen
In allen Kulturen rufen Menschen Geister, sagt Pohl im Interview, um mit ihren Problemen im täglichen Leben besser zurecht zu kommen. In Ghana zum Beispiel suchen viele Leute sogenannte Okomfus auf, um Zaubereien durchführen zu lassen, die ihnen Visa nach Europa verschaffen sollen. Andere bitte sie darum, Flüche auszuprechen oder aufzuheben.
Weitere Buchempfehlungen
Im Buch schildert die Autorin die Geschichte eines solchen Fluches, der angeblich über einem Dorf gelegen ist. Immer wieder fiel dort der Strom aus, die Felder gaben nichts her, die Menschen waren arm und unglücklich. Schließlich habe ein Priester auf einer Müllhalde am Rande des Dorfes einen Hexentopf gefunden, ein einfaches Gefäß aus Ton, gefüllt mit Ziegenfleisch, das in spirituistischer Symbolik Menschenfleisch darstellt. Diesen Topf habe der Priester ausgegraben, und gemeinsam mit den Bewohnern in einem feierlichen Ritual zerstört. Danach, so heißt es, sei es mit dem Dorf wieder bergauf gegangen.
S. Fischer Verlag
In den Ohren von Menschen westlicher Kulturen klingen solche Geschichten bloß nach haarsträubendem Aberglauben. Marie Pohl hat ihren Skeptizismus allerdings längst abgelegt. Sie schildert die Geistergeschichten mit ehrlichem Interesse, ohne dabei je eine gesunde Distanz zu verlieren. Wahrheit, hat sie gelernt, ist in solchen Zusammenhängen keine sinnvolle Kategorie. Stattdessen versucht sie die Menschen in ihren individuellen Wahrnehmungen ernst zu nehmen.
Es gehe doch einfach darum, so Pohl, dass sich die Menschen in diesem Dorf verflucht gefühlt haben. Nach der Ursache für sein Unglück zu suchen und diese dann zu beseitigen, sei ein zutiefst menschliches Vorgehen. Warum sollte man das verurteilen? Die Frage nach Einbildung oder Realität stelle sich in solchen Zusammenhängen überhaupt nicht.
Wenn man sich auf diesen Zugang einlässt und quasi zu Marie Pohls Gefährten auf ihrer Geisterreise wird, öffnet einem das Buch Welten, von denen man weder gewusst hat, dass sie existieren, noch wie sehr sie einen in ihren Bann ziehen können.