Erstellt am: 21. 7. 2012 - 13:05 Uhr
Crying your heart out
Unter dem Titel Emotional Cues in American Popular Music: Five Decades of the Top 40 haben Wissenschaftler der Freien Universität Berlin die Ergebnisse ihrer Forschung vorgestellt.
1000 Songs der Top 40 aus den amerikanischen Charts der Jahre 1965 und 2009 wurden vor allem hinsichtlich ihrer Tonlagen und Tempi analysiert. Dabei fiel auf, dass während sich in den 60ern eher fröhliche, flotte Songs in Dur in den Charts halten konnte, das Tempo mit den Jahren langsamer geworden ist, und die Tonlage immer mehr zu Moll gewechselt hat. Und langsame Moll-Stücke wirken nun einmal ernster und trauriger, Lieder in Dur und hohem Tempo eher fröhlich.
Nun lassen sich diese Ergebnisse was die Sechziger angeht nachvollziehen, denkt man an die Bubblegum Tennie-Hits dieser Zeit und Beatle Songs wie "Help!" und "She loves you". In den Neunzigern haben die Soziologen einen "Hip Hop und R&B Effekt" ausgemacht, in diesen Jahren wird die Chartsmusik langsamer und molliger, R&B Songs sind eben langsamer als Rocksongs. Und 2009 gab es schon doppelt so viele Moll- Songs als in den 60er Jahren.
Beatles
Diese Studie wirft natürlich jede Menge Fragen auf.
Bedeuten traurige Songs auch eine traurige Stimmung bei den Menschen? Sind die Menschen seit den 60ern trauriger geworden? Oder was war zuerst da, die traurige Musik oder die traurigen Menschen?
Nun muss man aber auch bedenken, dass traurige Musik nicht unbedingt traurig macht, sondern auch tröstliche und freudige Gefühle auslösen kann. Gefühlsgeschichtlich betrachtet waren ja Melancholie, Traurigkeit und Weltschmerz im 18. und 19. Jahrhundert hochgeschätzt, bis das Melancholieverbot der neueren Zeit kam, jenes gesellschaftliche Diktat, dass wir alle fröhlich und gut gelaunt sein sollen.
Oder reagieren wir auf den Alltag, der immer hektischer wird durch das Hören ruhigerer Musik, lässt sich da die einfache Formel aufmachen: Beschleunigte Gesellschaft- entschleunigte Musik?
Andererseits, denkt man an Charts-Musik, fallen einem doch zunächst Ramba-Zamba- Stimmungshits wie "Barbie Girl" ein oder die Kirmes-Techno-Nummern von Lady Gaga. Charts-Musik wird doch inzwischen längst im Hinblick auf Klingeltontauglichkeit produziert.
dur und moll
Aber die Studie kommt zu einem anderen Ergebnis: Die Hörer neigen dazu, Ambivalenz und Komplexität mehr zu schätzen, die Welt wird weniger in schwarz und weiß eingeteilt. Mehr Facettenreichtum wird bei der Musik geschätzt, und so wird Popmusik ständig komplexer. Als Beispiel gelten Mainstream-Bands wie Coldplay.
Rasante Dur-Songs werden hingegen auch von musikalisch ungebildeten Hörern als "unterkomplex" wahrgenommen.
Das gäbe ja Anlass zur Hoffnung und stellt sich gegen die kulturpessimistische Grundhaltung, dass die Menschen immer blöder werden, einfache Genüsse bevorzugen und keine Ambivalenzen mehr aushalten.
Was man natürlich vor der Studie schon wusste, ist, dass die schönsten Lieder immer die traurigen, vergeblichen sind. Aber es gibt auch in Moll ganz unterschiedliche Songs: gehaltvoll Traurige und oberflächlich Weinerliche.