Erstellt am: 17. 7. 2012 - 17:24 Uhr
Einmal Herzschmelzung, bitte
Egal, ob man jetzt zum ersten oder auch schon zum fünften Mal hier ist, und, egal, ob man diese Information immer als Erstes ins Ohr geflüstert bekommt: Das Areal, das Ambiente beeindruckt, um nicht zu sagen: flasht gewaltig. Das MELT! Festival hat einen enormen Standortvorteil, "Ferropolis" nennt sich der nahe Dessau gelegene Austragungsort; früher, früher einmal wurde hier Braunkohle aus der Erde geholt, heute stehen riesige Fördergeräte in der Gegend herum und rosten gemütlich vor sich hin. Dennoch hat die ganze Angelegenheit nicht den Charakter kratzbürstigen, nordenglischen Industrieruinentums oder komplett fertigen Lagerhallen-Ravens. Es ist ein lieblicher Rost und eine Luft, die nach Gladiolen, nicht nach Säure, duftet.

Philipp L'heritier

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Für gewöhnlich aber, wenn man nicht gerade ein komplett durch den Wind gebeutelter Raver ist, der halt gerade "irgendeinen DJ, geil" sehen will, kommt man zum MELT!, nicht um primär die Architektur zu bestaunen, sondern, um konzentriert das jedes Jahr exquisit zusammengestellte Musikprogramm zu erforschen. Gut 20000 Besucher zieht das Festival mittlerweile mühelos an und ist meist schon weit im Vorfeld ausverkauft. Rund ein Drittel der Besucher reist nicht aus Deutschland an, Menschen aus dem UK und aus Skandinavien machen den Großteil des Tourismus-Segments aus, 30 Österreicher dürften beim nach dreieinhalb Tagen diesen Montag Morgen bzw. eher Mittag zu Ende gegangenen MELT! Festival auch wieder dabei gewesen sein.

Philipp L'heritier

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Das Musikprogramm gestaltet sich wie gehabt als stilvolle Mischung aus gehobenem Indie-Rock und diversesten Dancefloor-Musiken. Man kann hier also locker auf der Main Stage seine Vaccines, seine Blood Red Shoes, Bloc Party oder The Rapture erleben, 50 Meter nach links gehen und dort hören, wie der norwegische Disco-König Todd Terje, Nina Kraviz oder John Talabot, Newcomer wie David August und Tale of Us oder Richie "Regulator" Hawtin (an welchen Geräten auch immer) die Big Wheel Stage beschallen.
Höhepunkte auf der Main Stage waren da dieses Jahr Caribou, der mit seiner Legierung aus Tanzelektronik und psychedelischem Rock vermutlich nie langweilig werden wird (Sun, Sun, Sun etc.), The Rapture, die in ebenjener, an diesem Wochenende eher selten aufblitzenden Sonne ein bisschen früh verbraten wurden, und Gossip. Nun mag die Musik von Gossip auf Tonträger schon ein wenig stromlinienförmig geworden sein, live kann, es ist ein Allgemeinplatz mit Berechtigung, Beth Ditto dann doch kaum jemand das Wasser reichen. Es gab kurze Zwischeneinlagen von Daft Punks "One More Time" und "Smells Like Teen Spirit" - und der Mensch, der sich zwischen Tausenden schwitzenden, bestens gelaunten und wunderhübschen Menschen den Mächten von "Standing in the Way of Control" und "Heavy Cross" widersetzen kann, muss erst vom Internet konstruiert werden. Nach Ende des Konzerts schaffte es Beth Ditto auch noch in den Bühnengraben, entzündete sich an der Zigarette eines am Gitter in der ersten Reihe stehenden Fans selbst eine ebensolche und dankte dem verdutzt dreinschauenden Mann: Isch Liebe Dich!
Auch der Kanadier Destroyer durfte heuer mit achtköpfiger Band, Schmuserock und gefühlten 20 Schlafzimmer-Saxophonen die Main Stage bespielen, ebenso wie Erlend Oye mit dem geschmeidigen Disco-Rock seiner Band The Whitest Boy Alive, die den Platz vor der Hauptbühne als quasi Headliner vor Justice bis in die letzte Ecke mit Publikum füllen konnte. Das lässt auch ein bisschen darauf schließen, was das denn für ein Publikum ist, das sich da mit großen Brillen so auf dem MELT! herumtreibt.

Philipp L'heritier

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Auch dieses Jahr waren die Besucherinnen und Besucher des MELT! styletechnisch ziemlich weit vorne: Zu weiten Teilen immer noch wie aus dem American-Apparel-Katalog gefallen, aber wieder schön mit, wie sagt man, individueller, Note durchsetzt. Die Ray Ban Wayfarers waren zwar nach wie vor gut vertreten, insgesamt aber werden die Brillen und die Sonnenbrillen wieder runder, auch die John Lennon ist wieder erlaubt. Die jungen Frauen kleideten sich nicht selten nach dem Modell "Dum Dum Girl", Früh-Neunziger Grunge im Rüschen- und Blumenkleidchen, gerne in Gothic-Farben, aber auch in Bunt, zu hoch geschnürten Martens oder anderen Kampfstiefeln. Bei den Herren reichte die Palette vom Popper-Look über den extrem beliebten "Tyler" mit Supreme-Cap und affigem Hawaii-Hemd hin zur "Jesus&Mary Chain"-Gedächtnis-Garderobe in ganz engen schwarzen Jeans und klobigen Boots. Manch einer trug gar einen Goldohrring - das war aber vermutlich ein Engländer.

Philipp L'heritier

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Musikalischer wie atmosphärischer Höhepunkt war konstant die vom Berliner Duo Modeselektor kuratierte Minibühne am Strand. Eine kleine, fast schon ins Wasser hineingetackerte Stage mit dem pragmatischen Namen "Melt! Selektor": Modeselektor ließen da befreundete, nicht selten den eigenen Label-Ställen Monkeytown und 50Weapons entspringende Acts die Welt erschüttern: Hudson Mohawke, Araab Muzik, Mouse on Mars, Shed, Lazer Sword, Gaslamp Killer, Phon.o - hier reihte sich zwischen Future Bass, verspultem HipHop, experimentellem Techno und aus allen Rudern laufender Weirdo-Elektronik ein Endporphin-Schub an den nächsten.

Philipp L'heritier

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Ein Ereignis, auf das so gut wie alle gewartet hatten, war die Erscheinung der Lana Del Rey am Sonntag Nachmittag auf der zweitgrößten Bühne des Festivals, einem "Gemini Stage" getauften Zelt, in dem in der Nacht zuvor ein fantastischer Auftritt von M83 (mit Saxophon) gezeigt hatte, dass der gute Mann mittlerweile eigentlich auf die Main Stage gehört, und zwar zur Prime Time.
Frau Del Rey wurde mit einer Mischung aus ironischer Hähme, echter Bewunderung und kultiger Stargeilheit herbeigesehnt, der Auftritt selbst war mehr ein "Event" als eine besonders spannende Kultur-Darbietung. Lana Del Rey, die mittlerweile immer mehr die traurige Aura einer Priscilla Presley versprüht, war souverän, sehr sympathisch und gut bei Stimme - ihr Lächeln schien so, als würde sie ihre Geister dann doch mal wieder gerne loswerden. Die Musik wurde kammermusikalisch delikat dargeboten, mit Streichquartett, Klavier und dezenter Gitarre. Der Bombast, der ihre Produktionen mitunter ins Grell-Absurde überführt, fehlte leider. "Na gut, hat man das halt auch mal gesehen", hörte man die Menschen in sich hineinmurmeln. Dennoch, ein besserer Coldplay-Moment, als jener, in dem ein paar tausend Menschen eng umschlungen bei hellstem Tageslicht mit tief empfundenem Gefühl in der Seele "Video Games" gröhlten, war beim gesamten MELT! Festival nicht zu erleben.

Philipp L'heritier

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Im von der "INTRO" gehosteten Zelt gab es bodennahe Gitarren-Arbeiten von Kumpeltyp Thees Uhlmann, Finster-Pop von Zola Jesus oder mit den zwei abschließenden Konzerten von Yeasayer und Twin Shadow noch absolute Glanzlichter. Twin Shadow - der Typ ist alles: Der supersexuelle Funk von Prince, die Kernigkeit von Bruce Springsteen. Hier ist ein Star.
Der Floor für die ganz harten Discoteere war aber wie jedes Jahr der "Sleepless Floor". Sleepless. Rund um die Uhr pumpten hier also DJs und ein paar vom Equipment her eher klein angelegte Live-Acts wie Superpitcher, Gerd Janson, Permanent Vacation, Oliver Koletzki, Matias Aguayo oder das tolle neue österreichische Duo HVOB beste Beats in die Sandarena.
Ausnahmsweise soll hier eine ausdrückliche Wertung stehen: Das MELT! Festival ist sehr, sehr gut; ein bisschen was sollte man aber schon mit Techno und schick anzuschauenden Menschen am Hut haben, sonst ist dieser ganze Glitter, der Glam, die Extravanganz und das ganze emotionale Lametta nur schwer zu ertragen. Ein Label-Showcase von Bpitch Control am Sleepless Floor beschloss am Montag das Festival, da waren Justice - Headliner der Main Stage am letzten Tag - und ihr CD-Player schon längst abgereist. Seifenblasen standen in der Luft.

Philipp L'heritier

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