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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

12. 7. 2012 - 07:00

Was ist "The Rolling Stones"?

Ein "Was-wäre-wenn" zum heutigen Live-Jubiläum der dienstältesten Rockband der Welt.

Am 12. Juli 1962 spielten die Rolling Stones ihr erstes Live-Konzert. Jagger und Richards kannten einander schon seit '61, Brian Jones kam auf Vermittlung von Alexis Corner dazu, in der gemeinsamen Band fehlten Wyman und Watts noch, Ian Stewart war schon dabei, als sie den Gig im Marquee spielten. 1964 veröffentlichte Decca das Debut-Album mit dem Titel "The Rolling Stones". Diese Geschichte spielt etwa neun Jahre danach.

Es war mitten in der ersten Hälfte der 70er, ich war ein Heranwachsender im Körper eines Kindes, ein Unterstufler, ein Drittklässler, ein Schwamm, der neue und beunruhigende Informationen aufsog, vor allem, wenn es sich um Musik handelte, die damalige Leitkultur der jungen Menschen.

Diese neue und beunruhigende Musik, die damals in Österreich aufschlug, hatte Verspätung, zwei, drei, fünf Jahre, sie war der Nachhall dessen, was es 67/68/69 an Pop-Explosionen im englischsprachigen Ausland gegeben hatte. Die kulturelle Renaissance der beginnenden Kreisky-Ära ließ eine aufkeimende Beschäftigung mit diesen Sounds zu, mit harter Rockmusik, verquerem Pop und verhangener Psychedelik. Pink Floyd und Led Zeppelin waren die Donnergötter der Stunde, die Musiklehrer begannen damals, sich partiell anzubiedern.

Ich habe diese kaum vorhandene und unleistbare Musik illegal runtergesaugt, ganz so wie es auch heute noch gehandhabt wird. Mein Netz waren die analogen Radiowellen, und mein Speichermedium hieß Kassettenrekorder. Damit belauerte ich die einschlägig bekannten Frequenzen zu bestimmten einschlägigen Zeiten.

Manchmal schenkten mir Erwachsene vorproduziertes Futter für dieses Medium, sogenannte Kauf-Kassetten, unerhört überteuerte Billig-Kopien von regulären Vinyl-Alben, von einer unverschämten Plattenindustrie zum selben Preis verkauft.

Futter für den Kassettenrekorder, den Downloader der 70er

Von meiner Oma bekam ich zu einem Geburts- oder Weihnachtstag eine Kassette auf der "The Rolling Stones" stand. Meine Oma hatte keine Ahnung von Pop, Rock oder Psychedelik, sie war Fan von Peter Alexander und Farah Diba und eine selbstermächtigte Amateur-Heurigensängerin. Das war alles ganz furchtbar, machte aber gar nichts aus, weil sie ein großartiger Mensch war.

"The Rolling Stones" hatte genau gar nichts mit dem zu tun, was ich von dieser mir bereits bekannten Band, den Rolling Stones, aus dem Radio runtergesaugt hatte. Dort flirrten provokante Anbohrer wie Sympathy for the Devil oder Satisfaction, dort wütete politische Agitation bei Street Fighting Man, dort dröhnte Spott wie in Starfucker oder Jumpin' Jack Flash, dort träufelte patschulischwangerer Nelkenzigarettenduft aus We Love You und verschwurbelter Hintersinn aus den Auschnitten von Their Satanic Majesties Request, das ich einmal in der Ö3-Musicbox gehört hatte.

"The Rolling Stones" hingegen war klanglich deutlich älter, staubte ein wenig nach dem Rock'n'Roll der 50er, zu dem meine Eltern tanzen gingen, und nach dem Blues, den mein Vater über Qualtinger und Bronner importiert hatte.
Auf "The Rolling Stones", dem Debutalbum der Stones von 1964, finden sich nämlich, mit einer öffentlich gemachten und zwei verschleierten Ausnahmen, ausschließlich Covers von Klassikern dieser Genres.

Der Rock'n'Roll der Eltern, der Blues von Qualtinger

Meine Oma hatte das nicht absichtlich gemacht, sie hatte wohl nach dem Rolling Stones-Titel gegriffen, der optisch am gefälligsten war. Und vorne, am Cover des Tapes, war ja tatsächlich ein schicker Mick Jagger zu sehen. Ich habe die Kassette öfter angehört, als es meinem Interesse nach dieser Musik entsprochen hätte, wohl, weil sie etwas Besonderes war, und währenddessen die aufgedruckten Credits studiert.
Chuck Berry kannte ich, als einzigen Autor eines der Stücke. Rufus Thomas klang wild, ebenso Ellas McDaniel, Jimmy Reed oder Willie Dixon. Route 66 kannte man, so als Klassiker halt, I'm a King Bee hatte etwas Selbstverständliches und der Sound von Can I Get A Witness war auch irgendwie vertraut - und die Autoren (Holland–Dozier–Holland) lasen sich lustig.

Aber nur Tell Me, das einzige Stück, wo Jagger/Richards dabeistand, besaß etwas von den Rolling Stones, die ich damals kannte und gewollt hätte.

Glücklicherweise las ich kurz darauf ein selbstgekauftes Jugendbuch über Bob Dylan, lange Zeit die einzige seriöse deutschsprachige Auseinandersetzung mit Rockmusik überhaupt.
Und dort fand sich ein ganzes Kapitel über die Vorläufer, den Blues und den Rock'n'Roll. Das erzählte mir, dass Ellas McDaniel in echt Bo Diddley hiess, dass Jimmy Reed und Willie Dixon die Paten des Chicago Blues und dass Holland–Dozier–Holland die Erschaffer der vielen Motown-Klassiker waren.

Meine Oma und ich und Winnetou und Klekih-Petra

Nicht, dass dieses neue Wissen mir die Kassette, mir "The Rolling Stones" dadurch nähergebracht hätte. Ich war zu deutlich schon NextGen, wollte nicht mehr in diese bodenständigere Phase aus der von Soundexperimenten und kreischigen Hohnsagungen beherrschten Late-Sixties/Early-Seventies-Periode zurück, aus den Herrenjahren der Stones.

Ihre Lehrbubenjahre hatten für mich nur archäologischen Wert. So wie Winnetou halt auch den Rat der Weisen und Klekih-Petra annahm, habe ich die alten Blues-Helden bis hin zu Chuck Berry an mich herangelassen. Und danach Muddy Waters oder B.B.King entdeckt.

Wenn ich das, was ich heute über "The Rolling Stones" weiß, über das Album drüberlege, dann kann ich zwar auf interpretatorische Details hören, dann macht mich der Versuch der Stones mit ihren Mitmusikern Phil Spektor und Gene Pitney Genre-Klassiker zu imitieren, lächeln - mehr an Emotion kommt da auch heute nicht.
Da fährt zudem die Erinnerung an meine Oma deutlich drüber.

Wer weiß was passiert wäre, wenn sie Aftermath oder Beggars Banquet erwischt hätte. Oder Let it Bleed, die Torte am Cover hätte gerade sie als famose Mehlspeis'-Köchin doch anspringen müssen. Und so ist meine Beziehung zu den Stones immer so geblieben wie meine Sammlung ihrer Platten: bruchstückhaft; ohne echten emotionalen Reinstarter, ohne Erweckungserlebnis. Schade.