Erstellt am: 10. 7. 2012 - 17:37 Uhr
Tolkien für Nerds
"In a hole in the ground there lived a hobbit." - Dieser Satz ist der Beginn eines Fantasy-Universums, das spätestens seit der Verfilmung der Herr der Ringe-Trilogie durch Peter Jackson das Eichmaß eines ganzen Genres geworden ist. "Der Hobbit", die erste fiktionale Veröffentlichung des britischen Sprachwissenschafters J.R.R. Tolkien ist aber kein dreiteiliges Epos mit unvermeidbaren Längen, sondern ein knackiges Märchen.
Klett-Cotta
Das große Hobbitbuch besteht aus dem Text an sich und gefühlten vier Milliarden Anmerkungen und reichlich Bild- und Kartenmaterial. Verantwortlich dafür ist Douglas A. Anderson, ins Deutsche hat es Lisa Kuppler übersetzt. Erschienen ist der Schinken klarerweise bei Klett-Cotta.
Weil das aber nach langen Verzögerungen, Regie-Wechseln und arbeitsrechtlichen Problemen endlich ins Kino kommt, liegt nun auch auf Deutsch eine wissenschaftliche Bearbeitung des Textes vor, das die Augen-Sprunghaftigkeit zwischen Original-Text und Fußnoten-Orgie auf eine harte Probe stellt. Wer Wert auf Lesefluss legt, sollte das Buch erst gar nicht angreifen. Wer sich für die Materie interessiert und jetzt zu lesen beginnt, könnte eventuell bis zum Filmstart durch sein.
Das Ende der Kopf-Visualisierung
Wenn Lesen Kino im Kopf ist, dann wird man beim Lesen selbst das echte Kino schwer los. Wer Herr der Ringe vor der Verfilmung nicht gelesen hat, wird Elijah Wood und Cate Blanchett schwer in die hintersten Synapsen verbannen können. Und die Ikonografie der Film-Trilogie ist so stark, dass sie sich visuell auch über den Hobbit-Roman legt. Wie ein junger Bilbo aussieht, können wir uns gut vorstellen. Gandalf verändert sowieso nur seine Haarfarbe und Zwerge haben hinter der wuchernden Sekundär-Behaarung kaum Recht auf eine merkbare Charakter-Fresse. Deshalb verwirren die zahlreichen Zeichnungen und Skizzen im Buch sehr oft. Was, so soll das ausgesehen haben? Geh bitte...
Warner Bros.
Zu lesen lohnt sich das Märchen rund um einen faulen Hobbit, der zufällig in ein riesiges Abenteuer gerät, seltsame Elben trifft, gegen einen fiesen Drachen kämpft und mittels Rätsel diesem seltsamen Gollum einen Ring abschwatzt, aber allemal. Vor allem, weil es schlichtweg besser geschrieben ist als die Geschichte rund um Bilbos Neffen Frodo und diesen einen Ring da.
Weil die neuseeländische Regierung schnell die Arbeitsgesetze geändert hat, wurde der Film dann übrigens nicht wie angedroht in Osteuropa gedreht.
Den Hobbit hat Tolkien für seine Kinder geschrieben. Es ist eine simple Geschichte über den Kampf Gut gegen Böse und - das noch verdeutlichender - Groß gegen Klein. Ohne den mächtigen Gandalf wäre zwar aus Bilbo auch Troll-Sülze geworden, der pädagoische Mehrwert ist aber klar erkennbar. Traut euch was, geht schon irgendwie.
Der Mythos von Mittelerde ist nicht am Kartentisch entstanden, sondern als Gute-Nacht-Geschichte. Akribisch listet die kommentierte Hobbit-Ausgabe auf, wo und wann Tolkien welche Änderungen am Text vorgenommen hat, es waren einige pro Neuauflage. Damit der Hobbit ins immer größer werdende Epos passt, mussten Daten, Distanzen, Namen und Handlungsstränge immer wieder verändert werden.
Mythen-Remix
Weitere Literaturrezensionen
Tolkien war ein guter Erzähler. Aber vor allem war er ein guter Leser und Remixer. Seine Mythos-Piraterie war aber nie heimliche Abschreiberei, sondern die bewusste literarische Umsetzung seiner sprachwissenschaftlichen Forschungsarbeit. Die Namen der Zwerge etwa stammen fast 1:1 aus isländischen Mythen. Beowulf, das Gilgamesch-Epos des angelsächsischen Raumes, dient immer wieder als Inspirations- und Abschreib-Quelle. Das ist kein Vorwurf, sondern als Lob gedacht. Tolkien hat all die studierten Mythen in sein Universum und seine Moralvorstellungen integriert. Und Urheberrechtsprobleme hat man mit so uralten Texten ohne gesicherte Autorenschaft sowieso nicht.
Peter Jackson hat bereits einmal bewiesen, dass er aus ausuferndem Basis-Material gute Filme machen kann. Den Hass der Hardcore-Fans wird er ohnehin mit der einen oder anderen Kürzung oder Umdeutung provozieren, da führt bei sakralen Fiktionen kein Weg vorbei. Wer den prolongierten Doppel-Blockbuster der nächsten beiden Adventzeiten fundiert beschimpfen will, sollte vorher "Das große Hobbit-Buch" lesen. Oder einfach ins Kino gehen und beim Bier danach "ja, voll!" sagen.