Erstellt am: 10. 7. 2012 - 12:51 Uhr
Der Kater nach dem rauschenden Fest
Nach der Feier folgt der Kater: Nur zwei Tage nach dem Ende des rauschenden EM-Festes in der Ukraine wurde das Land wieder auf den harten Boden der politischen Realität zurückgeholt. Nur wenige Meter von der Kiewer Fanmeile, die noch nicht einmal abgebaut worden war, dominierten wieder die Flaggen. Doch statt den Farben der europäischen Teilnehmerländer trugen sie dieses Mal die Farben der Oppositionsparteien, vom Rot der Klitschko-Partei Udar bis zum Weiß der Vaterlandspartei der inhaftierten ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Auslöser für die Demonstrationen, die seit Dienstag in der Kiewer Innenstadt stattfinden, war die Verabschiedung des umstrittenen Sprachengesetzes, das Russisch und andere Sprachen in bestimmten Regionen stärken soll. Der Termin dafür wurde alles andere als zufällig gewählt. Negativschlagzeilen während der EM sollten mit allen Mitteln verhindert werden, davor gab es ohnehin genug davon. Die Ruhe vor dem Sturm, das hätte die Stimmung in der Ukraine in den Wochen und Monaten vor und während des Turniers am besten beschrieben. Selbst die Miliz, sonst eher angsteinflößend denn Helfer, zeigte sich von ihrer besten Seite.
Michael Riedmüller
Dass es mit der Ruhe nach der EURO vorbei sein würde, darüber machten sich hier die meisten Oppositionellen keine Illusion, doch mit der Geschwindigkeit, mit der die autoritäre Regierung ihre hässliche Fratze zeigen würde, damit haben selbst Pessimisten nicht gerechnet. Noch am Dienstagabend, kurz nach der Abstimmung im Parlament, versammelten sich zirka 600 Demonstranten vor dem so genannten "Haus der Ukraine", wo Präsident Janukowitsch am nächsten Morgen eine EM-Abschlusspressekonferenz geben wollte. Es dauerte nicht lang, da strömten aus allen Richtungen Milizionäre in Kampfmontur herbei, am Ende standen 600 Demonstranten 1300 Polizisten gegenüber, die mit Tränengas und Knüppeleinsatz selbst vor Boxweltmeister und Oppositionspolitiker Vitali Klitschko keinen Halt machten. "Hier geht es nicht um einen Sprachenstreit, hier geht es um die Spaltung des Landes", begründete Klitschko seine Teilnahme an den Protesten.
Die Spitze des Eisbergs
Nach der EM ist vor der Parlamentswahl: Im Oktober wählen die Ukrainer eine neue Volksvertretung und in den Umfragen liegt die regierende Partei der Regionen von Präsident Viktor Janukowitsch derzeit bei unter 30 Prozent, weit entfernt von einer Mehrheit. Das Sprachengesetz, ein Versprechen vom Wahlkampf im Jahr 2009, soll das Ruder herumreißen. Das Gesetz sieht vor, dass in Gebieten mit einem Anteil von wenigstens 10 Prozent Muttersprachlern eine von 18 Minderheitensprachen zur Regionalsprache erhoben werden kann. Konkret bedeutet das vor allem eine Stärkung des Russischen, das im Osten und Süden des Landes die Muttersprache der Mehrheit der Bevölkerung ist. Grundsätzlich eine gute Sache könnte man meinen, doch in der zerrissenen Ukraine mit seiner komplizierten Geschichte muss das Ganze wesentlich differenzierter gesehen werden.
Michael Riedmüller
Am Rande der Demo sprach ich mit dem früheren Wirtschafts- und Außenminister Arsenij Jatseniuk, der heute mit seiner Partei "Front des Wandels" einer der Oppositionsführer ist. Länder wie die Schweiz zeigen doch, dass Mehrsprachigkeit funktionieren kann, argumentierte ich, warum denn nicht auch in der Ukraine? Seine lapidare Antwort: "Die Schweiz hat auch nicht Russland als Nachbar!" Das Sprachengesetz sei zudem nur die Spitze des Eisbergs, genauso so wie die Verurteilung von Timoscheno, am Ende stehe immer ein Bruch der Verfassung. "In der Verfassung ist die russische Sprache schon heute geschützt, warum zur Hölle brauchen wir so ein Gesetz?"
So wie er denken in der Ukraine viele. In dem Gesetz sehen sie eher einen Angriff auf das Ukrainische als einen Schutz des Russischen. Die ohnehin seit der Unabhängigkeit existierende Spaltung des Landes werde damit nur verstärkt, sagt die Demonstrantin Julia, deren Muttersprache selbst Russisch ist. "Der einzige Zweck des Gesetzes ist, das Land zu polarisieren." Mit dem Sprachenthema versuche die Regierung, mit den Ängsten der russischsprachigen Bevölkerung zu spielen, vor allem jetzt im Vorfeld der Parlamentswahlen.
Michael Riedmüller
Zypriotische Yogalehrerin als CEO
Tatsächlich hat die Regierungspartei selbst in ihrer Machtbasis im Osten einen großen Teil ihres Rückhalts verloren, vor allem auch wegen der Art und Weise, wie sich die Regierungspolitiker während der EM-Vorbereitung bereichert haben. Korruption in der Politik, das ist für die Ukrainer nichts Neues, doch das Ausmaß sprengte für viele die Grenze des Erträglichen. Offiziell betrugen die Kosten für das Turnier mit Stadienbauten, Flughäfen und Verbesserungen des Straßen- und Schienennetzes vier Milliarden Euro. Schätzungen zu Folge dürften aber mindestens zehn Milliarden Euro aus den Staatskassen in die Vorbereitungen der EURO geflossen sein, neun Prozents der ukrainischen Wirtschaftsleistung 2011. Ein großer Teil davon verschwand in dunklen Kanälen von Firmen und Subfirmen, die über verschlungene Wege allesamt von Regierungspolitikern und ihnen nahestehenden Oligarchen kontrolliert werden.
Die Firma Altkom beispielsweise bekam Aufträge für Straßenbau im Wert von mehreren hunderten Millionen Euro. Wer hinter dem Unternehmen steht, ist bis heute unklar. Offiziell gehört sie der englischen Firma Eurobalt Limited, deren Vorsitzende eine Yogalehrerin in Zypern ist, wie die englischsprachige Wochenzeitung Kyiv Post herausgefunden hat. Auf Nachfrage erklärte die Yogalehrerin, dass sie nichts mit den Firmen zu tun habe, sie bekomme lediglich 534 Dollar im Monat um als offizielle Frontfrau zu dienen. Andere Firmen wie die AK Engineering, die hinter dem Umbau des Olympia-Stadions in Kiew steht, kommen allesamt aus Donezk, die Heimat von Präsident Janukowitsch und Infrastrukturminister Boris Kolesnikow. Dessen Anwalt ist in die Geschäfte von AK Engineering involviert, deckte die ukrainische Wochenzeitung Ukrainska Pravda auf. Am Ende wurde das Kiewer EM-Finalstadion mit Kosten von 450 Millionen Euro zum teuersten Stadion der Welt.
Michael Riedmüller
Wenig Grund für Optimismus
So positiv die EM für die Ukraine am Ende auch verlaufen ist, die Kosten dafür haben die Ukrainer zu zahlen. Wegen der horrenden Kosten fehlt das Geld an allen Ecken und Enden. Erst kürzlich wurde in Kiew beispielsweise eine Kinderklinik geschlossen, weil der Staat kein Budget mehr dafür hatte. Ein Hubschrauberlandeplatz für den Präsidenten im Zentrum von Kiew geht sich hingegen immer noch aus. Es sind diese Geschichten, die nun auch jene Ukrainer auf die Barrikaden treiben, die seit jeher auf Seiten der Präsidentenpartei standen. Ob es der Beginn einer Bewegung ist, die am Ende zu einer neuen Revolution führen könnte, ist derzeit noch nicht absehbar. "Ein Wandel ist ein langer Prozess", sagt der Oppositionspolitiker Arsenij Jatseniuk, "auch die Bewegung, die zur Orangen Revolution führte, hat sich schon lange vor 2004 formiert."
Michael Riedmüller
Die Parlamentswahl im Oktober wird der erste Lackmustest, fraglich ist, wie die Regierung mit einer möglichen Niederlage umzugehen gedenkt. Die ersten Anzeichen stimmen alles andere als optimistisch. Noch während der EM sei es gegenüber mehr als einem Dutzend ukrainischer Journalisten zu Einschüchterungen und Drohungen, sagen Vertreter der Organisation "Stop Zensur". Viele frühere "orange" Politiker sitzen weiterhin im Gefängnis, trotz einer Rüge des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der die Verurteilung des früheren Innenministers Juri Luzenko als politisch motiviert bezeichnete. Die Verhaftung sei willkürlich gewesen und hätte ausschließlich den Zweck gehabt, ihn von der Teilnahme an den Parlamentswahlen abzuhalten.
Vor der EM äußerten viele ukrainische Bürgerrechtler, Oppositionelle und Intellektuelle die Befürchtung, dass nach dem Turnier die europäische Aufmerksamkeitsspanne gegenüber der Ukraine überstrapaziert sein werde. Die europäischen Politiker müssen nun beweisen, dass sie auch abseits eines Fußballturniers ein Interesse an einer demokratischen Ukraine haben. Skepsis ist angebracht, es wäre nicht das erste Mal, dass die europäischen Länder dem Geschehen bei ihrem östlichen Nachbar schnell den Rücken kehren.