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Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

3. 7. 2012 - 19:43

Den Kopf himmelwärts, die Füße fest auf dem Boden

Bachmannpreis-Kandidat Matthias Senkel zeichnet in seinem Generationenroman "Frühe Vögel" die Geschichte des Fliegens nach, von den Flugpionieren zur ersten Frau am Mond.

Matthias Senkel weiß bereits, wie sich Gewinnen anfühlt. 2009 hat er für seine Prosa den OpenMike-Preis der Literaturwerkstatt Berlin abgestaubt, einen der beiden wichtigsten Preise für deutschsprachige Nachwuchs-LiteratInnen. Ob es auch beim zweiten, dem Ingeborg-Bachmann-Preis zum Sieg reicht, wird sich diese Woche bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt entscheiden, Senkel steht wie 13 andere AutorInnen auf der Kandidatenliste.

Autor Matthias Senkel

Margret Hoppe

Senkels Romandebüt "Frühe Vögel" ist ein Generationenroman und verfolgt den Traum vom Fliegen fast ein Jahrhundert lang. Theodor Wilhelm Leudoldt ist der erste in der Familie, der vom Wunsch, sich in die Luft zu erheben, infiziert ist. Dabei muss er mit seinem Großvater brechen, der ihn so gerne im Fachbereich der Ferriviatik, dem Wissen über Eisenbahnen, behalten hätte. Doch im späten 19. Jahrhundert kann man sich den Flugpionieren kaum entziehen, die Zeitungen sind voll von ihren Flugversuchen.

Luftfahrtexperten

Um in der Reichsstadt Gotha zum Experten für Aeronautik gekürt zu werden, reicht es schon, bei einer Luftschifffahrtsausstellung ein Glas Apfelwein zu trinken. Da dieses Privileg allerdings nicht Theodor, sondern einem Arbeitskollegen zukommt, muss er einen anderen Weg zur Luftfahrt nehmen.

Theodor ist ein Planer und Stratege. Er nützt sein Schachtalent für den beruflichen Aufstieg, schnappt alle Informationen und Geschichten auf, die ihm unterkommen und fasst sie in Denkschriften zusammen: von der industriellen Massenproduktion nach Henry Ford, die ihm für die Flugzeugindustrie vorschwebt bis zu osmanischen Raketentests aus dem 16. Jahrhundert. So schafft er sich einen Ruf als Vordenker und Experte der Luftfahrt, in einem Metier, das vor allem durch die zwei Weltkriege einen immensen Innovationsschub erfährt.

Drei Generationen

Es gibt allerdings auch eine Anleitung, wie die einzelnen Teile chronologisch gelesen werden können.

Die Geschichte Theodors wird achronologisch erzählt. Die Kapitel sind alphabetisch nach ihren Überschriften angeordnet und so springt die Lektüre zwischen drei Ehefrauen Theodors, zwei Hochzeitsreisen, zwei Sprachlehrern und verschiedenen Anstellungen hin und her.

Ein Comic in der Mitte des Buches, gezeichnet von Maryna Zhdanko, markiert den Übergang von Theodor zur Geschichte seiner Tochter Ursula, Kind aus seiner dritten Ehe mit der Raketenforscherin Gerhild. Mit ihr verlagert sich auch der Erzählort von Deutschland in die USA, wohin Gerhild und Ursula nach dem Krieg ziehen.

Dort hat die hochbegabte Ursula mit ihrem Sprachdefizit zu kämpfen, wird je nach Lesart zur Science-Fiction Illustratorin oder Mathematikern und bringt eine Tochter zur Welt, die sich entweder zum Fliegerass und erster Frau auf dem Mond entwickelt oder im Wochenbett verstirbt. Matthias Senkel lässt seine LeserInnen entscheiden, mit welchem Ende sie aufhören wollen.

In der Natur ist das einzige Ende der Tod

Buchcover von Matthias Senkels "Frühe Vögel"

Aufbau Verlag

"Frühe Vögel" von Matthias Senkel ist im Aufbau-Verlag erschienen.

Dass am Ende aller Geschichten der Tod steht, macht Matthias Senkel schon mit einem Zitat von Alasdair Gray klar, das dem Buch vorangestellt ist: "A story can always end happily by stopping at a cheerful moment. Of course in nature the only end is death, but death hardly ever happens when people are at their best."

Bei Senkel sterben alle seine ProtagonistInnen. In einem mehr als hundertseitigen Anhang führt er aus, wie die ca. 400 Figuren, die im Buch vorkommen (ob in einem Nebensatz oder nur in ihrer Funktion) aus dem Leben scheiden. So stirbt etwa Theodors Russischlehrer an Krebs, ein Polizist wird von einer Lok überrollt, eine Lehrerin ertrinkt im Swimmingpool und Benito Mussolini hängt an einer Tankstelle.

Ein formales Experiment

"Frühe Vögel" ist ein Roman, der mit viel Humor die Geschichte der Luft- und Raumfahrt begleitet und dabei historische mit erfunden Personen mischt. Autor Matthias Senkel nützt sein Debüt aber vor allem zum Experimentieren. Er wechselt einerseits den Schreibstil, der vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart immer lockerer wird, andererseits auch die Form: Achronologische Kapitel wechseln sich ab mit geradlinig erzählten, ein ganzer Teil ist in Interviewform gehalten und am Ende steht das bereits erwähnte Personenverzeichnis. Senkel zeigt mit diesen Variationen, was er drauf hat, und es macht Spaß ihm zu folgen. Wer sich beim Lesen allerdings nicht gerne auf Experimente einlässt, sollte von dem Buch besser die Finger lassen.