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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

2. 7. 2012 - 14:49

EM-Journal '12-75.

Das Euro-Finale 2012, Teil 3: die Würdigung des Zweitplatzierten Italien.

Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.

Das Finale: Spanien - Italien 4:0 (2:0).

Die Halbfinals: Deutschland - Italien 1:2 und Portugal gegen Spanien 0:0, 2:4 nE.

Die Viertelfinals:
England gegen Italien 0:0, 2:4 nE, Spanien - Frankreich 2:0, Deutschland gegen Griechenland 4:2 und Tschechien - Portugal 0:1.

Die Übersicht zu allen Spielen und Journalen.

Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.

FM4 dankt allen Besuchern des EM-Quartiers im Wiener WUK, es war schön und hat uns sehr gefreut. In zwei Jahren, zur WM in Brasilien dann wieder!

Es herrschte ein seltsames Gefühl vor diesem Finale, ein Hype, so eine Art Goldgräber-Stimmung. Egal ob in den Medien, in den Bekanntenkreisen oder auch den Expertengremien. Auch bei den Kickern selber: 90 Prozent der Austrianer waren vor dem Finale überzeugt, dass Italien gewinnen würde.

Nicht nur die Squadra Azzurra hatte sich in einen Turnierrausch gespielt, auch der/die geneigte ÖsterreicherIn wurde rauschig. Ich denke, da hat einiges reingespielt: Zum einen, dass Italien Deutschland ausgeschaltet hatte. Das ist sowohl für die Deutschland-Verächter als auch die Deutschland-Freunde, die dann wenigstens ihren Bezwinger gern als Champ sehen würden, wie schon 2006 einmal, ein Argument. Dann die leise nachbarliche Affinität, die konkrete Kenntnis aus den Urlaubserlebnissen.
An vorderster Front steht aber die riesenhafte Verblüffung, die einem dieses Team verschafft hat. Italien, sonst Hort der knurrigen Defensive und aktiven Spielverzögerung, greift unentwegt und Braveheart-mäßig an, spielt auch nach einer Führung offensiv - da bleibt unserem schon der Mund offen stehen. Wer so sehr gegen alte Klischees arbeitet, hat natürlich einen Bonus.

Dass diese gesammelten Boni sich in den Tagen vor dem Finale zu diesem Italien-Hype, zu dieser kleinen Hysterie verdichteten, war dann allerdings deutlich over the top. Zumal trotzdem klar war, wer hier immer noch der Chef de Cuisine und wer hier der Sous Chef ist.

Trotzdem hatte ich in den beiden letzten Tagen durchaus Mühe mit reiner Vernunft und dem Beharren auf Spanien als Favoriten, auch im hochöffentlichen Rahmen, durchzukommen: die Kopfschüttler waren mittlerweile in einer deutlichen Mehrheit.

Wie das Finale die zuvor herrschende Hysterie zurechtstutzt

Gut, das Finale hat dann alles wieder geradegerückt, und zwar deutlich.

Und: das italienische Team kann ja nix für die schlussendlich absurd werdenden Projektionen der Menschen. Es hat bei dieser Euro Fantastisches geleistet und wird dafür, und nicht für die unglücklich hohe Finalniederlage und schon gar nicht für eine absurde Erwartungshaltung in Erinnerung bleiben.

Vor der Euro hätte nämlich niemand viel Geld auf einen italienischen Finaleinzug gesetzt. Und das zu Recht. Denn die Vorzeichen standen schlecht.

Der aktuelle Wettskandal schaltete Domenico Criscito, den einzigen Linksverteidiger von Klasse aus, er schlug Bonucci und Buffon an, er brachte Trainer Prandelli dazu, von einem möglichen Rückzug des Teams zu reden, er brachte die unangenehmst möglichen Vorzeichen in die Vorbereitung. Das einzige Testspiel vor der Euro ging trotz toller Offensivwirbel-Leistung 0:3 verloren, und diverse Trottel, die das Match nicht gesehen hatten, verkündeten bereits das Ende aller Hoffnungen. Trainer Prandelli experimentierte bis zum Schluss mit seinen Systemen, fand keines, das wirklich passte; was auch am teilweise eher durchschnittlichen Personal lag. Die Abwehr etwa: gut, aber nicht sehr gut, keiner davon. Die Anker im Mittelfeld: Pirlo vielleicht doch schon zu alt, De Rossi durch sein Foulspiel in dauernder Rotgefahr, als Offensiver hatte sich keiner so richtig aufgedrängt... Und dazu dann der Angriff der Volltrottel, mit dem homophoben Dorfdeppen Cassano und Italiens Arnautovic, Balotelli.

Wer da auch nur einen Funken Hoffnung hatte, wurde milde belächelt. Die positiven Vorzeichen, die kluge Philosophie von Prandelli, der ein fluides System installieren wollte, drang nicht so recht durch.

Wer vor dem Turnier auf Italien setzte, galt als Idiot

Und dann das, gleich im ersten Gruppenspiel, einem der besten der Euro, vielleicht dem besten, gegen Spanien: die Erweckung: Ein an sich defensiv aufgestelltes, aber hochoffensiv denkendes und orientiertes Team schafft es dem Top-Favoriten zu zwicken, holt ein grandioses Remis. Stellt danach um, immer nach Bedarf, höchst fluid, und schafft es Gegner von guter und höchster Klasse (Kroatien, England, Deutschland) auszuschalten.

Pirlo spielt sein vielleicht bestes Turnier ever, wird nie müde, sondern immer jünger. De Rossi begeht im gesamten Turnier vielleicht fünf Fouls. Balotelli und Cassano kanalisieren ihre Verrücktheit in unerwarteten Hakenschlägen und verwirrenden Offensiv-Aktionen. Dazu kommt mit Marchisio einer, mit dem man nicht gerechnet hatte. Montolivo ist der gesuchte Offensiv-Aufdränger. No Names wie Diamanti oder Nocerino hatten tolle Kurzeinsätze. Die Abwehr funktioniert, obwohl sie nur zweitklassig ist und dauernd wechselt. Bonucci und Buffon können die Wettscheiße wegdrängen.

ITALIA

Tor: Kapitän 1 Gianluigi Buffon (Juventus), 12 Salvatore Sirigu (Paris SG/FRA), 14 Morgan De Sanctis (Napoli).

Abwehr: 2 Christian Maggio (Napoli), 3 Giorgio Chiellini, 15 Andrea Barzagli, 19 Leonardo Bonucci (Juventus), 6 Federico Balzaretti (Palermo), 7 Ignazio Abate (Milan), 4 Angelo Obinze Ogbonna (Torino).

Mittelfeld: 5 Thiago Motta (Paris SG/FRA), 16 Daniele De Rossi (Roma), 21 Andrea Pirlo, 8 Claudio Marchisio, 13 Emanuele Giaccherini (Juventus), 23 Antonio Nocerino (Milan), 18 Riccardo Montolivo (Fiorentina), 22 Alessandro Diamanti (Bologna).

Angriff: 9 Mario Barwuah Balotelli (Manchester City/ENG), 20 Sebastian Giovinco (Parma), 10 Antonio Cassano (Milan), 17 Fabio Borini (Roma), 11 Antonio Di Natale (Udinese).

Prandelli stellt sein Team auf die jeweiligen Gegner nicht wie andere, mit einem Reaktions-Plan, sondern mit einem Aktions-Plan ein. Er unterwirft seine Systeme nicht, er schneidert sie so zurecht, dass immer Attacke möglich, ja nötig ist. Sein Italien neu ist eine Mannschaft, die gar nicht anders kann. Selbst nach einer Führung wird nicht trapattonisch zurückgezogen, sondern weiter forciert, aufs zweite Tor gespielt. Das ist ungewöhnlich und verstört die Gegner.
Im Halbfinale ist der Trainer des Gegners durch diese strategischen Neulandbetretungen so verstört, dass er einen folgenschweren Fehler begeht und Italien so das Finale möglich macht.

Strategische Einschätzungen, Verstörung und der Plafond

Das Finale allerdings überforderte Italien in jeder Hinsicht: zweimal ließen sich die Spanier nicht reinlegen. Dachte sich auch Prandelli und verzichtete auf den 5-3-2 Schmäh aus Spiel 1. Das war vielleicht ein Trugschluss. Denn als er mit seiner alleroffensivsten Variante, einem 4-4-2 mit Mittelfeldraute, ins Spiel ging, bedachte er wohl nicht, dass er damit bei einem (möglichen) Rückstand nichts hatte um zuzulegen, die Offensivkraft noch zu verstärken.

Mit dem 5-3-2 aus Spiel 1, das sich im Offensivfall gern als 3-5-2 präsentierte, hatte das spanische Mittelfeld seine liebe Not. Denn natürlich sind Marchisio-Pirlo-Motta (und dahinter De Rossi) imstande mit Xavi-Xabi-Iniesta mitzuhalten. Beim 4-4-2, bei dem sich die Außenverteidiger praktisch immer hinten aufhielten, hatte die diesmal eh auch wieder zu sechst antretende Mittelfeld-Armada der Spanier deutlich weniger Probleme.

Andererseits: Hätte Prandelli die Strategie aus Spiel 1 probiert, ich bin sicher, dass die Spanier auch dafür etwas in der Trickkiste gehabt hätten - es wär, davon bin ich überzeigt, wurscht gewesen. Für Italien war der Gegner zu stark. Dass sie die eigentlich zweitbeste Mannschaft des Turniers, Deutschland, geschlagen hatten, war schon der Plafond.

Und kein schlechter.
Wenn Prandelli bleibt, oder ein anderer in seinem Sinn übernimmt, wenn der Verband den neuen Weg, die Philosophie des neuen offensiven Italien weiterführt, dann ist weiter einiges möglich. Wenn Leute wie Guiseppe Rossi, Aquilani, Criscito oder Davide Santon, also echt gute Außenverteidiger dazukommen, fallen dann auch einige Schwächen weg, die verhindert haben, dass es diesmal zum ganz großen Wurf reicht.

Der war noch nicht in Schlagdistanz; dazu ist diese Mannschaft noch zu sehr im Aufbau gewesen. Es war aber herrlich diesem Aufbau bei dieser Euro in einem Learning by Doing live zuzusehen .