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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

1. 7. 2012 - 14:02

Song zum Sonntag: Neil Young & Crazy Horse - Clementine

Neudeutung von historischem Garn.

Neben der Tatsache, dass er vor Jahrzehnten schon das Fundament für eine Musik gelegt hat, die in den frühen 90ern dann als "Grunge" zu Weltruhm gelangen sollte, ist der altgediente Songwriter und Karohemden-Rocker Neil Young ziemlich berüchtigt dafür, sich immer wieder mal gerne neu zu erfinden, was Style und vor allen Dingen Sound anbelangt, und damit mit schöner Regelmäßigkeit schon gut eingesessene Fans zu vergrämen. Früher, früher jedenfalls war das einmal so, mittlerweile ist der gute Young schon ein wenig im eigenen Legendenstatus und Saft der Würde erstarrt.

Wenn es darum ging, Fremdmaterial neu zu interpretieren, hat Neil Young jedoch immer schon recht populäre Entscheidungen getroffen: "Sittin' on the Dock of the Bay" von Otis Redding oder "Blowin in the Wind" und "All Along the Watchtower" von Bob Dylan hat er sich neben vielen anderen mehr oder weniger bekannten Stücken aus dem Kanon der Musikgeschichte mit meist überschaubarem Willen zur Neugestaltung zu eigen gemacht.

Auf dem Anfang Juni erschienen Album "Americana", das Young mit seiner alten Combo Crazy Horse eingespielt hat, führt er die Idee, sich bei wohlbekanntem Liedgut zu bedienen, ins Extrem und ist dabei gleichzeitig so radikal wie selten. Auf "Americana" - der Titel verheißt es schon - lässt Young traditionellem, mit einer Ausnahme nordamerikanischem Songmaterial, Folksongs, in diesem Falle "Volksmusik" Neudeutungen angedeihen: Dies sind über weite Strecken Lieder, die so gut wie jeder Mensch kennt. Lieder, die während der Kindererziehung und des Bügelns gesungen werden. "This Land is Your Land" von Woodie Guthrie ist auf "Americana" vertreten, "Wayfarin' Stranger" oder "God Save the Queen" - nicht von den Sex Pistols, sondern das britische Nationalanthem.

Oder auch der im späten 19. Jahrhundert entstandene Song "Clementine", besser bekannt als "Oh My Darling, Clementine": Die Geschichte des trauernden Lovers der seinen Darling, die Tochter eines Minenarbeiters, bei einem Schwimmunfall an den Tod verliert. Auch existiert die Interpretation, dass im Stück nicht der Liebhaber, sondern schlicht der Vater die Verstorbene beklagt. Diese Variante ist weniger populär.

Neil Young und Crazy Horse geben "Clementine" roh und erdnah, auf knapp sechs Minuten aufgeblasen und mit einer Ruppigkeit, als wären sie gerade nach zweiwöchigem Exzess in einer Garage bzw. einer Kohlenmine aufgewacht. Hier geht es nicht um falsche Girlanden, sondern um den bloßen Song. Die letzte Strophe des Stücks, die in vielen Versionen wegen eventueller mangelnder Kindertauglichkeit oder enger Moralverstellungen fehlt, hat Neil Young mitgenommen - und unterstreicht sie ausdrücklich: Hier trauert der Hinterbliebene zwar um seine alte Liebe, tröstet sich aber dann doch recht schnell mit Clementines jüngerer Schwester. Das untergräbt freilich das Weihevolle des Stücks - und gibt ihm eine pikante, vielleicht fragwürdige Drehung: "How I missed her, how I missed her/ How I missed my Clementine. So I kissed her little sister, And forgot my Clementine."

Neil Young hat Musik genommen, die aufgrund ihrer Allgegenwärtigkeit und ihres Daseins als Standard im kollektiven Gedächtnis längst schon als ein tatsächlich wahrnehmbares Stück Kunst verschwunden war, er hat es betont schlicht interpretiert und so wieder als Lied, als Geschichte greifbar gemacht.