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Michael Riedmüller

Im Osten viel Neues: Geschichten aus der Ukraine

1. 7. 2012 - 13:41

Kiew: Neue Kunsthauptstadt Europas

Die Kulturszene in der ukrainischen Hauptstadt pulsiert, und die jungen Künstler gewinnen immer mehr an Selbstbewusstsein, auch gegenüber der Machtelite.

Kiew wird in Westeuropa mit vielen Schlagwörtern verbunden: Ostblock, autoritäre Regierung, Korruption, Menschenrechtsverletzungen – mit einem zu guten Image hat die ukrainische Hauptstadt in vielen Bereichen nicht zu kämpfen. Als pulsierende Kunstmetropole wird Kiew aber ebenso eher selten beschrieben. Zu Unrecht. Im Westen bisher nur wenig wahrgenommen, hat sich Kiew in den letzten Jahren still und heimlich zu einer der lebhaftesten Zentren zeitgenössischer Kunst in Europa entwickelt. Begonnen hat die Entwicklung schon in den Neunziger Jahren, der wichtigste Impuls kam aber 2006 mit der Eröffnung des PinchukArtCentres, das vom Oligarchen Viktor Pinchuk ins Leben gerufen wurde. Der hat mit dubiosen Mitteln seit dem Ende der Sowjetunion Milliarden gescheffelt. Dass sein Schwiegervater der ehemalige Präsident Leonid Kutschma ist, dürfte dabei sicherlich kein Hindernis gewesen sein. Nun geriert er sich als Philanthrop, und egal, wie man zu seiner Vergangenheit stehen mag, für die ukrainische Kunstszene ist es ein Segen. Für sein Kunstzentrum holt er große Namen nach Kiew. Derzeit ist dort eine Ausstellung des indisch-englischen Bildhauers Anish Kapoor zu sehen, die erste dieser Art in Osteuropa. In der Dauerausstellung hängen mehrere Gemälde von Damien Hirst, dessen Werke derzeit zu den teuersten weltweit zählen. Daneben hängt eine Hirst-Zeichung, die seinem „guten Freund Viktor“ gewidmet ist. Gleichzeitig unterstützt Pinchuk auch zeitgenössische ukrainische Künstler mit einem Kunstpreis und Ausstellungen.

Schild mit Fußballfreier Zone

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Art Arsenal

Die größten Impulse für die zeitgenössische lokale Kunst in Kiew geht derzeit aber vom Mystetskyi Arsenal (besser bekannt als ArtArsenal) aus, ein staatliches finanziertes Museum und Kunstkomplex, in einer ehemaligen Kaserne mit 60.000 Quadratmeter Ausstellungs-Fläche. Derzeit findet hier das bisher größte und prestigeträchtigste Kunstevent statt, das Kiew je gesehen hat: die „Internationale Biennale zeitgenössischer Kunst“, Arsenale genannt. Neben einer Vielzahl an lokalen Vertretern sind hier ebenso international anerkannte Künstler wie Ai Wei Wei versammelt. Der britische Kurator David Elliot glaubt, dass Kiew als Kunstzentrum auch international immer präsenter wird: „Die Vorstellung der internationalen Kunstszene von der Ukraine als eine Art post-sowjetisches Hinterland hat sich geändert. Die Biennale ermöglicht einen neuen Blick auf das Land, seine Kunst und seinen Platz in der Welt.“ Ziel der Direktorin Nataliia Zabolotna ist, Kiew zu einer der Top-Kunst-Destinationen Europas zu machen. Ins Leben gerufen wurde das Projekt noch vom früheren Präsidenten Viktor Juschtschenko.

Festivalstimmung in Kiev

Michael Riedmüller

Festivalstimmung in Kiev

Aufschwung

Egal ob in bildnerischer Kunst, Literatur oder Photographie, die Kiewer Kunstszene erlebt seit gut einem Jahrzehnt einen massiven Aufschwung. „Wir sind noch keine internationale Marke, aber ich denke, das ist nur noch eine Frage der Zeit. Es gibt hier einfach so viele interessante Künstler“, sagt Pavlo Gudimov, Besitzer der Ya Galerie in Kiew und früheres Mitglied von Okean Elzy, einer der populärsten Rockbands der Ukraine. Eine Entwicklung, die die Szene in den letzten Jahren auch selbstbewusster werden ließ. Deutlich zeigte sich das vor einigen Monaten: Am 7. Februar eröffnte im „Visual Culture Research Centre“ der Kyiv-Mohila-Akademie die Ausstellung „Ukrainian Body“. Ziel war, die Körperlichkeit der ukrainischen Gesellschaft zu erforschen. Neben Stücken wie Oksana Briukhovetska’s Bilderbuch über alte und gebrechliche Bewohner von Kiew und einem handgeschnitzten Dreizack von Vova Vorotniov wurden Sasha Kurmaz’s Photographien nackter Frauen und einige Zeichnungen nackter Männer von Anatoliy Byelov gezeigt. Zudem eine Videoinstallation von Anatoliy Byelov, das in einer Schleife widersprüchliche Bilder zeigte, beispielsweise das einer Vagina und des ukrainischen Parlaments. Die Frage dazu: „Welches Bild finden sie irritierender?“ Drei Tage nach Ausstellungseröffnung wurde sie vom Akademiedirektor Serhiy Kvit persönlich geschlossen, mit den Worten „Das ist keine Ausstellung, das ist Scheiße“.

Die Entscheidung löste eine Welle der Empörung aus, die auch in einigen solidarischen Aktionen mündete, wie dem Striptease eines Mannes in Donezk bei klirrender Kälte bei einer Demo. Eine Petition für die „Wiederherstellung der künstlerischen und akademischen Freiheit“ wurde aufgesetzt, unterschrieben nicht nur von vielen ukrainischen Künstlern, sondern auch vom slowenischen Philosophen Slavoj Zizek und anderen angesehen Intellektuellen in ganz Europa. Die Ausstellung blieb dennoch geschlossen, offiziell wegen Renovierungsarbeiten, in Zukunft soll der Raum als Universitätsarchiv dienen. In Kiew sehen viele das Ganze trotz allem sehr positiv. „Ich bin fest davon überzeugt, dass die Schließung der Ausstellung das wichtigste ist, das in der Szene der ukrainischen zeitgenössischen Kunst in den letzten Jahren passiert ist“, sagte damals beispielsweise Kateryna Botanova, die Direktorin des „Foundation Centre for Contemporary Art“ in Kiew. „Solch einen Aufschrei hätte es vor einigen Jahren sehr wahrscheinlich nicht gegeben, die Kulturszene entwickelt sich rasant, es ist fantastisch, es ist wie ein Vulkan.“

„Befreites“ Haus

Das „Visual Culture Research Centre“, über viele Jahrzehnte das liberalste und weltoffenste Kunstzentrum in Kiew, hat mittlerweile eine neuen Platz im Shovten-Kino im Stadtteil gefunden, nicht weit von seiner alten Heimat in der Akademie. Ebenfalls in diesem Stadtteil, am Kontraktova Plosha, steht ein Haus namens „Hostinny Dvir“ (gastfreundlicher Hof)“.

Konzert in Kiev

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Täglich finden hier Konzerte oder andere Veranstaltungen statt, die viele tausende Kiewer anziehen

Seit einigen Wochen ist es von verschiedenen Gruppierungen besetzt, oder besser gesagt "befreit", wie es dort heißt. Das zweihundert Jahre alte Gebäude mit großem Innenhof (wie der Name schon sagt) beherbergte über die viele Jahrzehnte Geschäfte, Cafés, eine Architekturbibliothek und sogar ein kleines Theater. Der Hof selbst war schon seit langem nicht zugänglich, nun wurden die Räume von der Stadt an private Investoren vermietet. Die wollen daraus ein Bürozentrum machen. „Wir wollen, dass das alte Gebäude erhalten bleibt“, sagt Igor Lutzenko, einer der ersten „Befreier“ und Sprecher der Gruppe „Save Old Kiev“.

Igor Lutsenko

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Igor Lutsenko von „Save Old Kiev“ ist einer der Organisatoren der „Befreiung“
Menschenkette in Kiev

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Einmal um das ganze Haus: Mittels Menschenkette wird für den Erhalt von Hostinny Dvir demonstriert.

Innerhalb kurzer Zeit hat sich der nun geöffnete Innenhof zu einem kulturellen Zentrum entwickelt. Konzerte, Puppentheater, Lesungen oder Filmvorführungen, jeden Tag finden in der „Hostinny Republic“, wie der Hof jetzt genannt wird, Veranstaltungen statt, die viele tausende Kiewer anziehen. Die Polizei ist bisher nicht wie befürchtet eingeschritten, allerdings gibt es auch keine Handhabe, denn laut Gesetz ist der Innenhof des staatlichen Gebäudes öffentlicher Raum. Die Mieter schickten nach drei Tagen dreißig „Banditen“, wie es hier heißt, die die Leute rausprügeln sollten. Überraschenderweise unterband die Polizei das Vorhaben. Viele hier befürchten, dass der Spuk nach der EURO vorbei ist, wenn die ausländischen Journalisten wieder weg sind. „Wir dürfen einen Monat Demokratie spielen“, sagt die Schriftstellerin und Sängerin Irena Karpa dazu. Der eine Monat aber dürfte ausreichen, dass hier viele auf den Geschmack kommen.

Tanzende Frau in Kiev

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Sängerin und Schriftstellerin Irena Karpa ist nur eine von vielen prominenten Unterstützern