Erstellt am: 30. 6. 2012 - 15:49 Uhr
EM-Journal '12-71.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Die Halbfinals: Deutschland - Italien 1:2 und Portugal gegen Spanien 0:0, 2:4 nE.
Siehe dazu auch Endstation Sehnsucht.
Die Viertelfinals:
England gegen Italien 0:0, 2:4 nE, Spanien - Frankreich 2:0, Deutschland gegen Griechenland 4:2 und Tschechien - Portugal 0:1.
Die Übersicht zu allen Spielen und Journalen.
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen. Für Regenwetter gibt es Indoors-Screens.
Für in Deutschland lebende Menschen mit einem über den Fußball hinausgehenden und trotz Europhorie noch intakten Sensorium ist es exakt so wie es Frau Rösinger hier so schön sagt: "Wenn die deutsche Elf aus dem Halbfinale rausfliegt, ist es zwar ein bisschen traurig, hat aber auch den Vorteil, dass weniger Fussballidioten unterwegs sind, und dass man sich nicht wegen der deutschen Fussball- und Europolitik-Vorherrschaft ansprechen lassen muss." Das bestätigen auch in Deutschland lebende ÖsterreicherInnen. Und da nicken auch Österreicher die hierzulande in deutsche Fanschwärme hineingeraten sind.
Die neue, sehr offene, im Umgang mit den anderen doch recht würdevolle Stimmung, die bei der WM 2006, dem deutschen Sommermärchen noch geherrscht hatte (Stichwort: positiver Patriotismus, Neu-Definition von Symbolen wie Hymne oder Flagge, unbelastetes Stolzsein auf die taktvoll und nach internationalen Maßstäben agierenden Vertreter - das nach der Klinsmann/Löw-Lehre lebende Nationalteam) hat sich über die Jahre abgenutzt. Es treten wieder die Urlaute, die grunzenden Untertöne, die Herrenmenschen-Attitüden zutage, die man schon hinter sich gelassen glaubte. Fragt einmal, liebe User, Menschen (egal ob sie Deutsche sind oder "nur" dort leben) mit nicht auf den ersten Blick deutsch wirkender Haut- oder Haarfarbe nach aktuellen Erlebnissen und ihr werdet eine Menge Gruselgeschichten hören, die in den letzten paar Jahren verschwunden schienen.
Der Grund dafür liegt im politischen Backlash, den von den Boulevard-Medien, der Regierung und der die Regierung kontrollierenden Industrie, vor allem die der Scheinwirtschaft forcierten neuen Machtfantasien im Zuge der Euro-Krise. Deutschland ist plötzlich der Retter von Europa und fordert dafür Unterwürfigkeit ein.
Das Problem mit den deutschen Hegemonial-Bestrebungen
Dass es deutsche Wirtschaftsinteressen und von einer laxen Finanzpolitik forcierte Ausblutungsstrategie des Finanzkapitals war, dass halb Europa erst in diese Scheiße taumeln liess, wird ausgespart - der Boulevard schürt ganz bewusst das Image vom südeuropäischen Faulpelz, der "uns" auf der Tasche liegt, hantelt sich dabei ganz knapp an der Grenze zur Untermenschen-Terminologie entlang. Geschürt wird das Ganze auch noch durch die Entrüstung darüber, dass diese Ausbeutungs-Politik und die frechen Forderungen auch noch eine gesamtsüdeuropäische Hasskultur den Deutschen gegenüber (vor allem der Regierung und Merkel) entsteht. Da sind die Schrauben einer Eskalation ganz leicht anzuziehen und eine ganze Nation ist in die Falle des billigst-möglichen Populismus gegangen.
Im Fußball nun, dieser großen Projektionsfläche der Emotionen, entlädt sich diesbezüglich eine ganze Menge. Nicht auf dem Platz, nicht bei den Teams und den Verbänden, nicht bei den Regierungs- und Industrievertretern, nicht also bei den Akteuren und Profiteueren, sondern bei den Betroffenen: der Bevölkerung.
Ganz Europa wünscht dem deutschen Team das Ausscheiden, weil es zu den ökonomischen und politischen Herrschaftsansprüchen, die die Merkel-Regierung wie selbstverständlich stellt, sonst auch noch die sportliche Regentschaft gekommen wäre. Und sich das dann in noch unerträglicher Arroganz niedergeschlagen hätte.
Dort wo bis dato nämlich nur die die nationalistische Dumpfheit früh wahrnehmenden Rattenfänger der Marke Pocher mit ihrer Per-Se-Verachtung des schlitzohrig-betrügerischen Südländers Stimmung gemacht hatten, sind im Lauf der Euro-Krise viele aus dem bis dorthin vernünftigen Mainstream nachgefolgt, hatte sich die subtile Mitmenschenverachtung bereits in einem "Das wird man ja noch sagen dürfen" Sarrazinscher Prägung durchgesetzt. Im Rahmen der Euro wuchs dieser neue, trendblöde, hochnäsige rein ökonomische Nationalismus, der ohne jegliche Werte und Moral auskommt, kurzfristig ins Unerträgliche. So sehr sich die öffentlich-rechtlichen Medien um Mäßigung bemühten, so sehr die Qualitätspresse dagegen anschrieb: die boulveardeske Verblödung, die im Rahmen der Euro-Krise betrieben wurde, machte auch die andere Euro zu einem Krisengebiet.
Das deutsche Team selber ist an all dem völlig schuldlos
Es hat nichts zu der aufgeputschen Stimmung beigetragen. Im Gegenteil. Besonnener als der DFB konnte man nicht mit der Lage umgehen. Bescheidener und demütiger als Löw und sein Trainerstab, als Lahm und die Spieler kann man so eine Situation nicht händeln.
Alles was die deutsche Nationalmannschaft im Vor- und Umfeld unternommen hat, war astrein, politisch sensibel gedacht und umgesetzt.
Jogis Jungs sind wahre Vorzeige-Akteure, nicht nur die Khediras und Boatengs (der kann sogar den Schlingel mimen, ohne dass es schadet), die Kloses und Özils, sondern alle, die Leader wie die Jungen.
Es war selten lustig deutscher Nationalspieler zu sein - nicht nur weil man jahrzehntelang das Image des drüberfahrenden Panzerfahrers, des den Befehlen folgenden Soldaten ohne Gewissen und Moral (Schumacher) hatte, sondern auch weil die forsche Außen-Politik der Bundesrepublik fast immer dazu beitrug, dass man zumindest innerhalb Europa skeptisch beäugt wurde. Nur einmal im Lauf der Nachkriegsgeschichte war das anders: 1972, als eine die Brandt-Ära spiegelnde Mannschaft einen (von Günter Netzer auf dem Platz symbolsierten) rebellischen Aufbruchsgeist versprühte. Nur deshalb gilt dieser Europameister als das spielerisch beste deutsche Team aller Zeiten.
Nun hat die Klinsmann-Löw-Bierhoff-Zwanziger-Revolution den deutschen Fußball von der Rumpelfüßigkeit befreit, Ethik und Moral auf den Unterrichtsplan gesetzt, strahlt eine frische, von sensibler Demut unterstützte Freude aus, eine Lust am Spiel, die der der großen Zeitgenossen (vor allem Spanien) gleicht, aktuell vielleicht nur von ein paar südamerikanischen Teams übertroffen wird. Und dann fährt dieser vorbildhaften Politik des DFB die unethisch, amoralisch und rein ökonomisch orientierte Flame-Politik der Regierung in die Parade, begeht ein Rot-Foul nach dem anderen.
Das ist bitter, weil es ungerecht ist.
Das ist bitter, weil es die Aufbauarbeit die der deutsche Fußballbund - der sich seiner gesellschaftspolitischen und historischen Aufgabe völlig bewußt ist - in voller Kraft und voller Absicht geleistet hat, nicht nur konterkariert, sondern auch zu zerstören droht.
Trotzdem noch ein paar Worte zum sportlichen:
Hat Löw seine Optionen genützt?
DEUTSCHLAND
Tor: 1 Manuel Neuer (Bayern München), 12 Tim Wiese (Werder Bremen), 22 Ron Robert Zieler (Hannover).
Abwehr: 4 Benedikt Höwedes (Schalke), 20 Jérôme Boateng, 14 Holger Badstuber, 16 Philipp Lahm (Bayern München), 17 Per Mertesacker (Arsenal/ ENG), 5 Mats Hummels, 3 Marcel Schmelzer (Borussia Dortmund).
Mittelfeld: 6 Sami Khedira, 8 Mesut Özil (Real Madrid/SPA), 7 Bastian Schweinsteiger, 18 Toni Kroos, 13 Thomas Müller (Bayern München), 2 Ilkay Gundogan, 19 Mario Götze (Borussia Dortmund), 15 Lars Bender, 9 Andre Schürrle (Leverkusen), 21 Marco Reus (Mönchen-gladbach -> Dortmund), 10 Lukas Podolski (FC Köln -> Arsenal/ENG).
Stürmer: 23 Mario Gomez (Bayern München), 11 Miroslav Klose (Lazio/ITA).
Ja, er hat riskiert, viermal gewonnen und einmal verloren, weil er sich verkalkuliert hat - das wurde bereits gestern in aller Ausführlichkeit besprochen.
Dass damit die Wiederholung des von allen gewünschten Gipfels mit Spanien ausfällt - schade. Er hätte Aufschluß über den aktuellen Stand geben können, auch wenn beide Mannschaften 2012 nicht auf dem Level von 2011 agieren.
Spanien hatte 2011 noch Puyol und Villa, und Barca-Stars in Überform. Und Deutschland hatte 2011 noch Bayern-Spieler ohne Frustpegel.
Die Nackenschläge, die die Bayern-Akteure in den letzten Monaten einstecken mussten, hatten ihren Anteil am Nichterreichen des Finales. Es waren zwar nur zweieinhalb der Bayern-Acht, die sich aus dem tiefen Tal der Trauer nicht rechtzeitig befreien konnten (Schweinsteiger und Kroos, Müller war schon vorher schwach), die Versagens-Angst lag aber auch bei den Anderen als Schatten über der Euro. Vor allem Schweinsteiger lief als imprägnierter Pechbringer durch das Turnier.
Letztlich war es dann aber ein strategischer und philosophischer Fehlgriff des diesbezüglich bislang für sakrosankt eingeschätzten Teamchefs, der das Halbfinalspiel verlor. In Kombination mit Kleinigkeiten wie dem letztlich dann doch nur unzureichend gelösten Außenverteidiger-Problem. Ein richtiger rechter Außenspieler (einer der Marke Dani Alves oder Debuchy) hätte das Problem im Donnerstagspiel nämlich minimiert. Vielleicht wäre die Variante Lahm/rechts und Schmelzer/links doch einen Vorfeldversuch mehr wert gewesen. Auch die Tatsache, dass hinter Khedira-Schweinsteiger dann nur noch allzu grüne Jungs im Kader standen, wurde zu einem Problem. Oder dass ein mitspielender Stürmer modernen Zuschnitts fehlt.
Ich will nicht in die ein wenig verloren klingende Trutzigkeit einstimmen, mit der die DFB-Vertreter jetzt die Qualität ihrer Performance betonen. Obwohl sie recht haben. Vieles ist/war da richtig, die Problemstellungen mit denen die Deutschen raufen, hätten alle anderen liebend gerne. Die Top-4-Leistung des Teams ist unbestritten, dass sie einer der zentralen Träger einer offensiv denkenden Fußball-Philsophie sind, die die nächsten Jahre mitdefinieren wird, ebenso. Dass es zum viertenmal hintereinander nicht für mehr reichte, wird den DFB nicht umwerfen. Dem deutsche Fußballverband tut die Rolle als knapp geschlagener Riese sogar gut - damit lässt sich sportpolitisch deutlich besser arbeiten.
Gefahr droht erst, wenn sich die Revanchisten, die alten Hardliner, die Panzerfahrer durchsetzen sollten. Oliver Kahn hat gestern im ZDF schon wieder den Rückgriff auf die alten Tugenden gefordert; als ob irgendjemand das Gemurkse seiner Truppe bei der WM 2002 - oder noch schlimmer, bei den Grusel-Euros 2000 und 2004 - noch einmal sehen möchte.
Und schon wird vieles hinfällig: Sammer geht zwei Tage später zu den Bayern, wo er mit seiner Hybrid-Philosophie eh besser hinpaßt...
Es wird viel auf Matthias Sammer, den DFB-Sportdirektor ankommen, der gern eine Mittlerrolle zwischen der aktuellen Linie und den Altvorderen einnimmt. Stabilisiert sich die Lage in den nächsten paar Wochen, wird die DFB-Elf bei der WM 2014 wieder ins Semifinale kommen; und vielleicht noch weiter.
Ob man es Deutschland dann gönnen wird, hängt von ganz anderen Entwicklungen ab.