Erstellt am: 29. 6. 2012 - 14:25 Uhr
EM-Journal '12-70.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Die Halbfinals: Deutschland - Italien 1:2 und Portugal gegen Spanien 0:0, 2:4 nE.
Siehe dazu auch Endstation Sehnsucht.
Die Viertelfinals:
England gegen Italien 0:0, 2:4 nE, Spanien - Frankreich 2:0, Deutschland gegen Griechenland 4:2 und Tschechien - Portugal 0:1.
Die Übersicht zu allen Spielen und Journalen.
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen. Für Regenwetter gibt es Indoors-Screens.
1
Nachträglich analysieren, klarersehen und besserwissen kann jeder. Nun nicht wirklich jeder, eigentlich können das auch nur jene, die ein Spiel sehen, lesen und auch beschreiben können, also vergleichsweise eh wieder nur wenige. Weil es trotzdem so viele tun: das beste Erkennungsmerkmal einer "Analyse" von jemandem, der das (sehen-lesen-beschreiben) nicht beherrscht, ist die argumentative Monokausalität und die Zurückführung auf Aufstellungs-Personalien. Bei Menschen, die selber im Bereich Fußball arbeiten, kommen die sogenannten "individuellen Fehler" dazu. Immer, wenn ein Coach etwas mit diesen individuellen Fehlern erklärt, bedeutet das im Subtext, dass er keine Ahnung hat, warum etwas passiert ist. Ich schweife ab.
2
Nachträgliches Analysieren ist vergleichsweise einfach; und auch billig. Ich habe das bei dieser Euro vermieden und mich der permanenten Gefahr ausgesetzt, bereits während der Spiele analytische Einschätzungen zu treffen. Diese Art der Besserwisserei in der Außenseiter-Position halte ich für gerade noch legitim. Und weil gestern abend ab Minute 1 die Problematik des deutschen Offensiv-Abteilung sichtbar und ab der 30. Minute eine schnelle Lösung für das deutsche Kern-Problem, das Scheitern von Löws Kroos-Manöver anzumahnen war, darf ich heute meine eigene Regel brechen. Und dieses Spiel, besser: die Ursachen für das deutsche Scheitern noch einmal aufdröseln.
Auch, weil das ein wunderbares Beispiel für die Folgewirkung von Fehlern, die Dynamik von Entscheidungen und vor allem die Multikausalität von Fehlleistungen ist.
3
Das Spiel hat nicht Schweinsteiger verloren, auch nicht Podolski, auch nicht Löw oder gar Kroos - Deutschland bekam das Match gegen Italien nie in den Griff, weil einige Menschen falsche Entscheidungen trafen, einige davon diese bis zum Schlusspfiff weder verstanden noch revidiert haben und weil ein zentraler Faktor das deutsche Spiel lähmt: ein Verlust. Gestern hatte man seine Grundlage außer Acht gelassen, die prinzipielle Spiel-Philosophie in der Kabine vergessen, vielleicht sogar weggesperrt.
4
Aber der Reihe nach: Team Deutschland spielte bislang ein souveränes Tournier - verglichen mit allen anderen Teams sogar das klar souveränste. Nur Siege, und das trotz teilweiser Probleme mit komplexer Gegner-Taktik (Portugal) oder der Formkrise einzelner Akteure (gegen Dänemark). Man hatte nie Schwierigkeiten, sein Spiel zu machen, ruhig zuzuwarten, Geduld zu bewahren, sich sicher zu sein, dass die nötigen Tore schon herauskombiniert werden würden. Spanische Tugenden also, die teilweise besser als bei den Spaniern selber funktionierten.
Diese Sicherheit speist sich aus der Philosophie des Teams, die der Trainerstab, schon seit Klinsmann, aber vor allem unter Löw erarbeitet hat: das Vertrauen auf die eigenen Stärken, auf die spielerische Klasse, auf körperliche Kraft, auf erhöhten Ballbesitz, auf eine offensivstarke Defensive, auf eine defensivstarke Offensive, auf ein geniales Hybrid-Zentrum, auf einen Klasse-Tormann, auf ein gesundes Gefüge mit vielen Konstanten aber ebenso großen Aufstiegschancen für Nachrücker. Ein nahezu perfektes System.
5
Die Brüche, die im bisherigen Turnier zu spüren waren, sind auf Probleme innerhalb der als Konstanten benötigten Akteure zurückzuführen. Schweinsteiger, der aggressive Leader, der Hybrid-Sechser/Achter, der Chefaufbauer, war doppelt angeschlagen (dreimal Vize-Bayern und eine Verletzung); Podolski, seit 2006 in jedem Turnier eine Bank, kam zur Überraschung aller nicht in die Gänge und Thomas Müller, die Entdeckung von 2010, schwächelte wie schon das ganze Frühjahr vor sich hin. Khedira, Özil und Gomez oder Klose konnten das Gefüge durch ihre Leistungen ausgleichen und da die Abwehr, vor allem Hummels, sehr gut funktionierte, klappte es auch mit der Leistung.
6
Im Viertelfinale reagierte Löw erstmals und stellte um: die Schwachstellen Müller/Podolski raus, Reus/Schürrle rein an die Flügel. Wirkung: hervorragend. Schweinsteiger blieb, weil er nicht überzeugend zu ersetzen war. Gündogan traute es Löw nicht zu, Toni Kroos machte auch keinen überzeugenden Eindruck. Außerdem ging sich eh alles durchaus klar aus. Und jede kleine Umstellung (selbst das riskante Lars-Bender-Manöver in Spiel 3) war aufgegangen.
Zudem war das DFB-Team in allen Matches immer seiner Linie treu geblieben: auf sich selber schaun, nicht auf den Gegner.
7
Was Joachim Löw wirklich dazu veranlasst hat, diese Philosophie just im wichtigen Halbfinale gegen Italien zu durchbrechen, werden in den nächsten Tagen ein paar Dutzend Menschen erfahren, wir alle erst in seiner Autobiographie - das, was er öffentlich an Erklärungen abgibt, sind reine Ablenkungen und Ausreden.
In jedem Fall traf er die Entscheidung, sich, erstmals seit Jahren, vielleicht erstmals überhaupt, massiv nach einem Gegner zu richten, schlimmer noch: einen Mann auf den spielerischen Zentralpunkt der Italiener (Pirlo) abzustellen. Das hatten nicht einmal die Griechen gemacht, Laurent Blanc hatte es bei Iniesta versucht, sonst hat man sowas bei dieser Euro aber nicht gesehen: einen Marker, einen Manndecker.
8
Abgesehen davon, dass es idiotisch ist, einen Spieler wie Pirlo mannzudecken (denn er kann sich mit einer Drehung entziehen und trotzdem einen Pass schlagen, der dann zu einem Tor führt, wie beim 1:0 ja geschehen): mit dieser Maßnahme hat Löw, psychologisch, seiner Mannschaft den Boden unter den Füßen weggezogen.
Er hat damit signalisiert, dass er den Gegner für unendlich wichtig und gefährlich und unglaublich stark hält. Weil er dafür die heilige, für unantastbar erklärte Basis-Philosophie (sich in erster Linie um die eigenen Stärken kümmern) über Bord geworfen hat. Für eine Maßnahme, die bei jedem anderen Team, das sich schwächer einschätzt als Italien, greifen würde, hat er eine Mannschaft, die davon lebt, dass sie weiß, dass sie stärker ist als alle (fast alle: Spanien halt nicht, aber stärker jedenfalls als Italien) Mannschaften, in die Bredouille gebracht. Damit hat Löw Italien zu stark gemacht. Und hat, vielleicht ungewollt, damit Eindruck bei den deutschen Spielern hinterlassen.
9
An diesem fatalen Fehler in der Ausrichtung ist Deutschland aber nicht gescheitert. Zum einen: sowas ist korrigierbar, mit einem Wechsel, einem möglichst schnellen. Zum anderen: eine funktionierende Mannschaft steht sowas durch. Wenn ein Spieler merkt, dass seine Ursprungsaufgabe nicht greift, forciert er seinen anderen Job - und Kroos hatte neben dem Pirlo-Marking ja auch die Aufgabe, zentral und (im Wechsel mit Özil) rechts nach vorne Druck zu machen.
10
Hier kommt aber die vorhin angesprochene Brüchigkeit der Mannschaft zum Tragen. Zum einen kommt Podolski auch in seinem vierten Match nicht rein ins Spiel. Zum zweiten ist Kroos, auch wegen seiner zurecht nicht erfolgten Einsätze davor, unsicher. Er traut sich offensiv nichts zu und vernachlässigt auch die Rochaden, stellt tendenziell nur den Raum zwischen Khedira-Schweinsteiger und dem erst recht wieder in die Mitte ziehenden Özil zu. Dafür klafft rechts eine riesige Lücke, die von Boateng natürlich nicht ausgefüllt werden kann - Lahm hätte das geschafft, der war aber links gefordert, auch, weil Podolski quasi ausfiel.
11
Außerdem machte das Problemkind Schweinsteiger sein nicht schlechtestes, aber gequältestes Turnier-Match. Mit fast jeder Aktion signalisierte er, dass er eigentlich nicht imstande ist, das Spiel zu ordnen, er bettelte implizit um einen Wechsel - allein es erhörte ihn niemand, weil er es hinter Durchhalte-Maßnahmen verschleierte. Zudem: es hätte eh nichts genützt. Löw musste aufgrund des gescheiterten Kroos-Manövers drei andere Wechsel vornehmen, Schweinsteiger war gezwungen, drinzubleiben.
Hätte er vor dem Spiel, vielleicht schon nach der Gruppenphase den Mut gehabt, sich als krank/kaputt abzumelden, wäre es möglich gewesen, jemand anderen neben dem heldenhaft die gesamte Mühe auf sich nehmenden, in dieser Notsituation grandiosen Sami Khedira einzuschleifen. Ähnliches gilt, abgemildert, auch für Podolski und Müller, die sich, obwohl völlig formlos, in reinem Kadavergehorsam für Löw und das Team opfern, statt ihren Teil zum Erfolg beizutragen und ihren Einsatz selber in Frage zu stellen.
12
Letztlich bleibt vieles an Löw hängen. Natürlich wären die Flügel Schürrle&Reus gestern deutlich besser gewesen als Niemand&Podolski.
Das war sein Missgriff.
Den er nur teilweise (rechts kam Reus, Kroos blieb drinnen und spielte links weiter, und weiter verhalten, angstvoll und mau - wie auch anders?) und spät (ja, man wartet bis zur Halbzeit; aber warum eigentlich, wenn es schon spätestens ab der 30. Minute deutlich sichtbar ist?) korrigierte.
13
Trotzdem wären seine Fehler in der Aufstellung und im Coaching, ja vielleicht sogar der katastrophale Lapsus, die Mannschaft mit einer schrillen Veränderung der Philosophie zu verunsichern, abzufangen gewesen, wenn sich die Mehrzahl der letztlich auf dem Platz stehenden Akteure in einer Verfassung befunden hätte, die über dem Normalwert liegt. Das war aber gestern (und da nicht zum ersten Mal) nicht der Fall: in der Schlussaufstellung standen mit Schweinsteiger, Müller und Kroos gleich drei psychisch arg angeschlagene Akteure; der zumindest stabile Klose und die glänzenden Reus und Özil konnten das nicht abfangen, zumal auch die Defensive nicht hilfreich war: Boateng und Lahm brachten kaum Läufe zustande, Hummels und Badstuber passierte vielleicht sogar ihr einziger Fehler im Turnier.
Diese gestrige Mannschaft, in dieser Aufstellung, konnte die Fehler nicht aufwiegen, das Match nicht drehen. Wahrscheinlich hätten auch Schürrle statt Müller oder Götze statt Kroos nicht gereicht.
14
Es kam einiges zusammen an durchaus unglückseligen Umständen; wie in jedem guten Drama hatten sich alle Zutaten für diesen Untergang schon vorher vorgestellt und angemeldet. Und eine ungünstige Kombination aus Konstellationen und die Eigendynamik, die sich aus bestimmten Entscheidungen oft ungewollt entwickelt, führten dann dazu, dass sich das DFB-Team in einem Strudel der Unentrinnbarkeit wiederfand, gleichermaßen als Kämpfer in einer Laokoongruppe.
Die bislang jeder ausgeschiedenen Euro-Mannschaft zugestandene ausführliche Verabschiedung folgt noch, heute oder morgen...
Das ist nicht die zufriedenstellende einfache Lösung, die jetzt der Boulevard suchen wird - und die auch bei diversen Edelfans des Spiels, selbst bei eleganten Forums-Postern so seltsam populär ist, diese "Hängt ihn höher!"-Methodik der simplen, personalisierten Schuldzuweisung.
Das folgt der Logik der kurzen, primitiven Form des Schmährufs, wo eigentlich die lange, komplexe Form des Dramas angebracht ist.