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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

2. 7. 2012 - 13:50

Berauscht vom Selbst-Bewusstsein

Kein sentimentales Erinnern, sondern ein waches Staunen bis zum High: Lisa Kränzlers "Export A" erzählt vom Existenz bedrohendem Exzess und von Unwiederbringlichem.

Buchcover zu "Export A" trägt den Titel und wasserfarbene Flecken wie Schritte im Schnee

Verbrecher Verlag Berlin

"Export A" von Lisa Kränzler ist dieses Jahr im Verbrecher Verlag erschienen. Leseprobe hier .

Wie Elisabeth Kerz durch den Tiefschnee die schräge Einfahrt auf das mintfarbene Haus zurutscht, schlittert man in ihre Geschichte. Es gibt keinen Halt in "Export A", dem Debütroman der Deutschen Lisa Kränzler, dessen Titel zugleich eine kanadische Zigarettenmarke ist. Sehr passend, denn geraucht wird vieles, nicht nur Zigaretten. Lisa Kränzlers Ich-Erzählerin ist Austauschschülerin in Kanada für ein geplantes Schuljahr. "Lis" Kerz ist dem gut behüteten und ebenso betuchten Elternhaus entflohen - geradewegs den Alaska Highway entlang in die Arme ihrer gottesfürchtigen, ausgewanderten Schwester samt Schwager. Man muss kein schwarzes Schaf sein, um auszuscheren. Elisabeth Kerz wird sich die erhoffte Freiheit erschleichen.

Die Mission dieser Elisabeth Kerz lautet: Alles erleben, was es zu erleben gibt. Und mit sechzehn weiß der Geist noch nicht wirklich, wann er auf der Hut sein muss, und der Körper nicht, was haushalten heißt. Alle paar Kapitel setzt es kryptische Warnungen. Andeutungen großer, auf sich geladener Schuld bekräftigen den Verdacht, dass da jemandem Schlimmes wiederfahren ist.

Beziehungsweise wiederfahren wird. Denn in "Export A" wechseln die Zeiten, ab und an. Anhand von Notizen, kleinen Überbleibseln und eines mehrfach bekreuzigten Stadtplans versucht Kerz zehn Jahre später, die Ereignisse zusammenzusetzen.

"Die restlichen Ereignisse des Wochenendes wehren sich weiterhin gegen ihre Rekonstruktion. Sie wollen unter sich bleiben und verbergen sich hartnäckig."

"Dies sind die Aufzeichnungen von Elisabeth 'Lisa' Kerz"

Eine 16Jährige Deutsche in Kanada erkundet High-School-Gänge und -Gangs und folgt sonntags den stundenlangen Beschwörungspredigten in der Trinity Baptist Church, die eigentlich ein Trailer ist. Der Stoff könnte größten Trash zur Folge haben oder die Handlung einer Neunziger Jahre Soap imitieren. Doch Lisa Kränzlers Debüt ist Literatur, die Spannung im Alltäglichen aufbaut, und einen an die Jahre erinnert, die man nicht unmittelbar aus dem Gedächtnis abrufen kann. All those wasted hours we used to know - aber Arcade Fire gab es in Lis' Austauschzeit noch nicht. Rage Against The Machine eröffnen die Tracklist im Roman mit "Bombtrack". Nicht einmal die zitierten Lyrics wirken aufgesetzt.

Autorin Lisa Kränzler

Lisa Kränzler

Debüt-Autorin Lisa Kränzler zwingt einen: Um das Wort "bildgewaltig" kommt man nicht herum.

Gemütlich wird es nicht - auch wenn Kränzlers Erzählsprache einen einzulullen vermag. Die Schulabbrecher, spindeldürr unter Schichten von Kapuzenpullis oder dick vom einzigen Grundnahrungsmittel Keksteig, die mit Lis in einem Haus zusammenwohnen, das die Alpträume von Erziehungsberechtigten nicht besser zimmern könnten, hat man vor seinem inneren Auge. Die Autorin Lisa Kränzler hat Malerei studiert und fokussiert auch mit ihrer Sprache auf Perspektiven.

Lis Kerz erkundet ihre nächste Umgebung, soweit es nötig ist. Diese Hauptfigur ist kein Trotzkopf, der um Sympathien ringt. Alles, was hier und ihr zum ersten Mal passieren wird, ist anvisiert und entzieht sich am Ende ihrer Kontrolle. Erste sexuelle Erfahrungen mit dem Kleindealer und Häuptling der Schulabbrecher-WG laufen unter Forschungsprojekt.

Die Zeit in der Centennial war eine fortwährende Steigerung des Selbstbetrugs. Pausenlos erhöhte ich Tempo und Einsatz. Manchmal stellte ich mir diese Tage als Sequenzen von drei oder vier in Panels eingefassten Zeichnungen vor. Fette, rote Ausrufe in Druckbuchstaben begleiten die Bewegungen der Lisa-Figur. PUSH! PUSH! PUSH YOUR LUCK, heißt es in jedem Bild."

Am Ende der Unschuld

"Export A" erzählt vom Ende der Unschuld. Aus dem Buch Hiob wird zitiert, und wie die alttestamentarische Figur ringt Lis mit sich und um ein Weltbild. Kränzlers Talent ist das Erzählen von Wahrnehmung. Im wahrsten Sinne sinnlich beschreibt sie die Ereignisse. Das ist konsequent und betörend. Auch Lis Kerz bleibt in der Fremde kein Anhaltspunkt, zur Orientierung muss sie auf ihre eigene Wahrnehmung setzen.
Seziert wird der "Fruit-to-go"-Streifen im Lunchpaket wie das eigene Ich:
"Mit dem Daumennagel fahre ich Vorder- und Rückhälfte und ziehe die dünnen Blättchen auseinander. Meine Finger halten 7 Gramm getrocknetes Erdbeer-Fruchtpüree gegen die schwächsten und schrägsten Sonnenstrahlen, die ich je gesehen habe.
Ahmt die Innenseite, das Unterfutter meiner Haut, diese glühende Erdbeerfärbung nach, überlege ich, oder ist bereits zu wenig Licht in mir und nichts als Dunkel, ein violettes Dunkel?"

So aufregend man sich ein Austauschjahr erträumt: Schulwochen ziehen sich auch in Porter Creek, und Lis Kerz ist offen für andere Reize. Es wird gekifft und getrunken - "Die Mutterflasche und ihre sechs Kleinen stehen vor mir stramm. Ich fange links außen an"-, bis jemand Lis' taube Füße in eine Badewanne, randvoll mit Wasser gefüllt, steckt und das Bewusstsein zurückkehrt. Anderntags kommt kein Retter, als Lis vergewaltigt wird. Die Initialzündung für Konsequenzen wird von anderen kommen.

Dabei bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur

Man darf sich also freuen, wenn Lisa Kränzler diese Woche beim Bachmannpreislesen in Klagenfurt lesen wird. Vorgeschlagen wurde sie von Juror Hubert Winkels, der auch Cornelia Travnicek für die Tage der deutschsprachigen Literatur 2012 vorgeschlagen hat. Zita Bereuter wird vor Ort sein und berichten.