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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

28. 6. 2012 - 15:57

EM-Journal '12-68.

Umgekehrte Logik oder: die Folklore des Herzens. Die Verabschiedung von Portugal.

Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.

Das Halbfinale gegen Spanien.

Die Viertelfinals:
England gegen Italien 0:0, 2:4 nach Elferschießen, Spanien - Frankreich 2:0, Deutschland gegen Griechenland 4:2 und Tschechien - Portugal 0:1.

Die Übersicht zu allen Spielen und Journalen.

Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.

FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen. Für Regenwetter gibt es Indoors-Screens.

Im Falle von Portugal habe ich mich geirrt. Und ich hab's gerne getan. Denn, rein psychologisch, ist diese umgekehrte Logik befreiend. War's in diesem Fall.

Seit zumindest 1996 ist Team Portugal in jedem Euro/WM-Turnier ein Mit/Geheim/Co-Favorit gewesen, wegen der goldenen Spielergeneration rund um Figo, dann auch wegen der durchaus bahnbrechenden strategischen Neuerungen des Teams (das als eines der ersten das heute normale 4-2-3-1 spielte), und schließlich dann auch noch wegen einer Art Folklore des Herzens. Weil man es diesen immer recht knapp vor dem Ziel scheiternden Künstlern, diesen offensichtlichen Schöngeistern, diesen Fußballspielern, die diesen Sport scheinbar aufgrund der ihm innewohnenden Poesie betreiben, gewünscht und gegönnt hätte. Den Erfolg, irgendeinen Erfolg, mehr als nur den ein konstanter Semi- oder Viertelfinalist zu sein.

Dieses Turnier war nun das erste, bei dem eigentlich keiner mehr die Portugiesen wirklich auf dem Zettel hatte. Bestenfalls im weiteren Kreis, aber: Geheimfavoriten waren diesmal andere. Maximal der Name Cristiano Ronaldo sorgte für ein kleines "eventuell" als Dauer-Präfix. Die Sympathiewerte für das Team waren immer noch dieselben - das Zutrauen war aber in den niederen zweistelligen Bereich gesunken.

Das hatte auch gute Gründe: in der Qualifikation arbeitete man schleißig - nicht so sehr in punkto Chancenverwertung (der alten historischen Schwäche) sondern in Bezug auf die Fähigkeit, ein Spiel gegen einen halbwegs gleichwertigen Gegner zu leiten und vor allem dann zu reagieren, wenn das Prunkstück (die Flügelzange Nani-Ronaldo) durch massiertes Pressing aus dem Spiel genommen wird. In diesen Fällen (und die waren vorhanden, auf diese simple Idee kommt jeder Gegner leicht) brach dann nämlich die Kooperation Defensive-Offensive leicht in sich zusammen. Portugal verfiel dann auf die nicht so gute Idee, das Mittelfeld mit langen Flugbällen (von denen auch nicht alle ankamen) zu überspielen; die Bindung zwischen dem Kraftwerk Mittelfeld und der Offensive ging dann verloren, wodurch man sich dann auch noch anfällig für gegnerische Konter machte.

Das entscheidende Mittelfeld-Kraftwerk

Das war, teilweise, so auch noch in den Testspielen vor der Euro zu sehen.
Ab dem ersten EM-Spiel aber war diese Krankheit wie verflogen: das Umschalten funktionierte ebenso wie die Zusammenarbeit zwischen dem Sechser, den Achtern und den offensiven wie defensiven Flügeln. Und zwar nicht nur im Angriffsfall, sondern - vor allem - in der Defensive.
Das Premierenspiel gegen Deutschland ging zwar verloren, war aber ein Knopfaufgeher, eine Erleuchtung: auch Portugal, das Team der offensiv orientieren Künstler, war imstande sich komplett einem strengen und rigiden Pressing-Konzept unterzuordnen ohne dabei ihre offensiven Stärken außer Acht zu lassen. Anstatt gegen einen überlegenen Gegner hirnlos anzurennen und sich durch Gegentore zum Schleifenlassen verleiten zu lassen, hielt Paulo Bentos Team das Konzept bis zum Schlusspfiff durch. Die Belohnung dafür stellte sich in den drei folgenden Matches ein; und fast hätte es gegen Spanien gestern Abend ja auch geklappt.

Für diesen Umschwung sind ein paar Faktoren verantwortlich.

Nicht das System: sein 4-3-3 spielt Portugal schon seit einiger Zeit. Im Gegensatz zur WM 2010 unter Carlos Queiroz änderte sich strategisch nur eines: Nachfolger Paulo Bento versuchte erst gar nicht zentrale Kreativspieler wie Deco oder Danny in dieses System zu pressen, in das sie nicht passen - weil er aktuell auf solche Kicker gar nicht zugreifen kann. Bento konzentrierte sich auf die Arbeit mit dem Mittelfeld-Dreieck.

Bei der WM hatte Queiroz noch Pepe als Zerstörer in die Sechser-Position gestellt - Veloso hatte nur Kurzeinsätze. Außerdem wurde in jedem Match aufs Neue herumbesetzt; und auf die Nominierung von Joao Moutinho komplett verzichtet.

Diesmal standen der zentrale Sechser Veloso, der halbrechte Achter Moutinho und der halblinke Achter Meireles von Anfang an fest. Und bildeten den Anker des portugiesischen Spiels. Und der im Vergleich zu Pepe deutlich aufbaubegabtere Veloso, der subtile Aufspieler Moutinho und der rabiat nach vorne preschende Meireles bilden ein perfektes moderndes Mittelfeld. Sie sind ein echter Prototyp.

Die nicht ganz zufällige Restaurierung der Abwehr

Dann kam noch der Zufall zur Hilfe: Bento zerkrachte sich mit Bosingwa und Ricardo Carvalho, also der Hälfte seiner Abwehr und stellt die notgedrungen um. Er zog Pepe zurück zu Bruno Alves, weshalb die Abwehrzentrale dann aus zwei vierschrötiges Schränken bestand - nach dem eleganten Cravalho ein echter Kulturbruch. Und auch der neue Rechtsverteidiger Joao Pereira ist ein eher derber Vertreter, kein Künstler wie Coentrao links.

Diese aus dem Zufall entstandene, dann aber bewusst gesetzte Maßnahme griff aber: Pepe hat gegen gute Kopfballspieler (Gomez, Bendtner) zwar das Timing eines Ochsen, macht aber selten mehr als einen Fehler; Pereira fand im Verlauf des Turniers die ideale Balance zwischen Wadelbeißerei und Vorstößen.

PORTUGAL

Tor: 1 Eduardo (Benfica), 12 Rui Patricio (Sporting), 22 Beto (CFR Cluj/ROM).

Abwehr: 19 Miguel Lopes (Braga), 21 Joao Pereira (Sporting -> Valencia/ SPA), 2 Bruno Alves (Zenit St Petersburg/RUS), 13 Ricardo Costa (Valencia/ SPA), 14 Rolando (Porto), 3 Pepe, 5 Fabio Coentrao (Real Madrid/SPA).

Mittelfeld: 4 Miguel Veloso (Genoa/ITA), 6 Custodio (Braga), 8 Joao Moutinho (Porto), 16 Raul Meireles (Chelsea/ENG), 15 Ruben Micael (Zaragoza/SPA), 20 Hugo Viana (Braga).

Offensive: 17 Nani (Manchester United/ENG), 7 Cristiano Ronaldo (Real Madrid/SPA), 10 Ricardo Quaresma, 9 Hugo Almeida (Besiktas/TUR), 23 Helder Postiga (Zaragoza/SPA), 11 Nelson Oliveira (Benfica), 18 Silvestre Varela (Porto).

Mit dieser Festigung der in der Öffentlichkeit sonst gern weniger beachteten Formationen brachte Bento auch deutlich mehr Kooperations-Fähigkeit in seine Offensive; die noch vor dem Turnier angezweifelte Balance war damit gegeben; die Basis für ein gutes Turnier gelegt.

Das wurde in weiterer Folge durch ideal konzipierte Matchpläne erreicht.
Denn auch gegen Dänemark und vor allem gegen Holland war Portugal taktisch ideal getunt. Und plötzlich ist dann das Erreichen des Halbfinals, mitsamt dem dort erfolgten sauknappen Scheitern kein Drama, sondern ein Erfolg.
Und auch einer der kein mitleidiges, sondern ausschließlich positiv besetztes Schulterklopfen nach sich zieht. Ganz im Gegenteil zu früheren Jahren, wo so ein Ausscheiden immer mit ordentlichem Wehgeklage begleitet wurde und sich eine breitere Öffentlichkeit schon mit voodoomäßigen Möglichkeiten, wie man Flüche bricht, zu beschäftigen drohte.

Das ist ein erfreulicher Paradigmenwechsel - Portugal ist nicht mehr der Dauerleidende, sondern ein normaler Player im Konzert der über die Jahre normalen Formschwankungen unterworfenen Großen. Ja, das könnte es sein: das Portugal just mit diesem Turnier zu den Großen aufgestiegen ist, ganz ohne Mit/Geheim- oder Co.

Hat Bento seine Optionen genützt?

In Anbetracht des Erfolgs: ja.
Warum jemand wie Quaresma, der das mit einem Trainingswickel quittierte, gar keinen Einsatz bekam, entzieht sich meiner Kenntnis. Allerdings war der an seiner Stelle eingewechselte Varela tatsächlich eine der Entdeckungen des Turniers. Dass Bento seine Grundformation praktisch durchspielen ließ und nur den Neuner wechselte, ist nachzuvollziehen: der zweite Anzug hätte nicht ganz so gut gepasst.

Der große Sieger auf portugiesischer Seite ist jedenfalls Paulo Bento, der Coach, der aus einem in der Breite nicht ganz so dichtem Kader, der aus einem nicht optimal belegten Reservoir geschöpft wurde, das Bestmögliche herausgeholt hat. Das hätte auch Mourinho nicht besser hingekriegt. Dummkopf, wer sowas jemals behauptet hat. Hach, die umgekehrte Logik, herrlich...