Erstellt am: 27. 6. 2012 - 15:44 Uhr
EM-Journal '12-66.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Die Viertelfinals:
England gegen Italien 0:0, 2:4 nach Elferschießen, Spanien - Frankreich 2:0, Deutschland gegen Griechenland 4:2 und Tschechien - Portugal 0:1.
Die Übersicht zu allen Spielen und Journalen.
Die Profile der sechzehn teilnehmenden Teams:
Gruppe A
Polen / Griechenland
Russland / Tschechien
Gruppe B
Niederlande / Dänemark
Deutschland / Portugal
Gruppe C
Spanien / Italien
Kroatien / Irland
Gruppe D
England / Frankreich
Schweden / Ukraine
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen. Für Regenwetter gibt es Indoors-Screens.
Wenn in Österreich jemand sagt, dass ein Spiel "von Taktik geprägt" war, dann wissen alle, was er damit meint ("Oasch-Match"); ich weiß noch was: dass er ein Idiot ist. Denn jedes Spiel ist von Taktik geprägt, ein Fußball-Spiel ohne Taktik gibt es nicht. Das ist so wie beim Menschen, der besteht ja auch zu 65% aus Wasser, man siehts halt nicht, wenn man nicht nachforscht. Aber auch Fußball ist anno 2012 eben keine kindliche Rangelei mehr, sondern eben eine durchgeforschte Sache.
Trotzdem hält sich der Mythos von der freudezerstörenden Taktik, vor allem in Österreich, beinhart. Als ob die Spiele der U9, wo alle Kids wie magnetisch angezogen in einer großen Traube dem Ball hinterherrennen, so vorbildhaft wären.
Mittlerweile ist das Fußballspiel das Abbild der Gesellschaft, vielleicht sogar das letzte Refugium, in dem die Werte der Realwirtschaft etwas bedeuten: es geht um Kooperation und Produktion, um Strategie und die Überlegenheit der Idee, um das Zusammenspiel von Planung und Instinkt. Die wirklich großen und erfolgreichen Teams haben das immer schon gewusst und beherzigt.
Ein kleiner Exkurs zu Österreichs EM-Titel 1932
Der einzige österreichische Fußball-Europameister etwa, das zurecht legendäre Wunderteam, das 1932 den Vorläufer-Bewerb, den Europapokal der Fußball-Nationalmannschaften gewonnen hat.
Da ist zwar hauptsächlich Teamchef Hugo Meisls "Spüts euer Spüü!"-Spruch überliefert - die Überlegenheit dieses drei Jahre lang den europäischen Fußball dominierenden Teams lag aber in einem auf seine Fähigkeiten zugeschnittenen System (das damalige 2-3-5 entspricht einem heutigen 3-4-3, der Centerhalf war der zentrale Verteidiger, die Verbinder in Wahrheit Mittelfeldspieler) in einer anhand des Personals abgestimmten Taktik und einem sehr präzisen, auf den jeweiligen Gegner abgestimmten Matchplan.
Rausgehen und euer Spiel spielen, das sagt auch Guardiola als allerletzten Satz zu seinen Barca-Stars; die Arbeit liegt und lag in der Arbeit davor. Im übrigen war der damalige Mittelstürmer, Matthias Sindelar, auch eher ein Messi oder Fabregas und sicher kein Torres - das nur als Input zur aktuellen Debatte.
Es gibt kein Spiel ohne Taktik. Wenn ein Coach, eine Mannschaft so dumm ist, das auszublenden, also das spielt, was sich auf dem Feld ergibt, sich treiben lässt, dann wird das ein schwächerer Gegner, der über einen Plan verfügt, ausnützen können. Die dümmliche Ausreden-Kultur, dass Taktik ein Spiel zerstört hätte, bezieht sich direkt auf ein weiteres Armutzeugnis: Variantenlosigkeit.
Aber genug von österreichischer Realität, retour zu den vier Semifinalisten, deren hohe Klasse im taktischen Bereich bislang durchaus eindrucksvoll belegt wurde.
Strategie und Taktik der Semifinalisten...
Am scheinbar einfachsten präsentiert sich das deutsche Team. Löw verlässt sich seit einiger Zeit auf sein 4-2-3-1, das er nur minimal variiert. Auch seine Basis-Taktik (frühes Pressing, schnelles Umschalten, Ballbesitz, bewusst inszenierte Tempowechsel, unausrechenbares Spiel übers Zentrum und die Flanken... ) bleibt immer gleich. Deutschland richtet sich mittlerweile - im Gegensatz zu etwa 2006 oder '08 - auch nicht mehr nach dem Gegner, sondern sucht einen Matchplan, der ganz gezielt Schwächen ausnützt und bestimmte Punkte anbohrt, in erster Linie aber die eigenen Stärken ausspielt.
Vorbild in vielen Bereichen ist dabei Spanien.
Trainer Del Bosque hat das frühere 4-1-4-1 gegen ein verwandtes 4-3-3 eingetauscht, das bei dieser Euro auch schon als 4-1-5-0 aufgetaucht ist. Geändert hat sich, dass Spieler wie Iniesta oder Fabregas mittlerweile klarer offensiv orientierte Aufgaben haben und sich (meist) nicht mehr auf derselben Linie bewegen wie Xavi und Xabi. Was beim letzten Titel für den Gegner noch komplett unausrechenbar war (das Vierer-Mittelfeld), kommt jetzt gestaffelter daher.
Dass dieses Wissen den Kontrahenten praktisch gar nicht weiterhilft, ist der hohen, über Jahre eingeübten kollektiven Ballfertigkeit der Spanier geschuldet. Taktisch wird man sich nie auf einen Gegner einstellen, sondern stur und ruhig sein Grundkonzept durchspielen.
Diesen beiden auf ihre (in den letzten sechs, acht Jahren systemtisch geförderten und deshalb so toll gewachsenen) Überlegenheit pochenden Teams stehen zwei Mannschaften gegenüber, die es aufgrund von hervorragenden taktischen Leistungen ein Stück weiter gebracht haben, als es ihre kollektive oder individuelle Klasse eigentlich zulassen würde.
...unter besonderer Berücksichtigung von Portugal & Italien
Hier eine interessante EM-Analyse von 11Freunde. Und auch bei abseits.at setzt man sich mit Euro-Trends auseinander, vor allem mit der Systemfrage.
Vor dem diesbezüglichen Meisterschüler (Italien) schnell zu Team Portugal. Coach Paulo Bento hat, in Ermangelung eines kreativen Zentralspielers, das schon seit einigen Jahren erprobte 4-3-3 so sehr gefestigt, dass mittlerweile - ähnlich wie bei einer Club-Mannschaft - sehr spezifische taktische Variationen möglich sind (das, by the way, ist ein Teil des deutsch-spanischen Erfolgsgeheimnisses: beide Teams spielen, als wären sie eine eingespielte Vereinsmannschaft, vertrauen seit Jahren demselben Stamm).
Die wichtigsten Waffen für die Variabilität sind die beiden Achter (Meireles und Moutinho), denen die Aufgabe zukommt, Kontakt zur mächtigen offensiven Flügelzange zu halten, die Vorstöße der Außenverteidiger zu koordinieren und zeitgleich das Zentrum zur Gefahrenzone umzuwandeln; im Defensivfall gilt der Umkehrschluss.
Gegen Spanien wird man wohl die Taktik des Deutschland-Spiels anwenden, als man - lange Zeit erfolgreich - versuchte, den Spielaufbau zu stören, sich bei Ballverlust (durchaus spanisch) auf den sofortigen Wiedergewinn des Spielgeräts zu konzentrieren und mittels stoßartigem Umschalten Chancen zu erarbeiten - die man dann auch nützen sollte. Bei den von Deutschland bewusst eingestreuten Phasen der Beruhigung und Verschleppung versuchte man seinerseits, durch Tempoerhöhung und Gegenpressing Druck zu machen.
Das ist natürlich riskant - aber ohne Risiko sieht man gegen Deutschland oder Spanien kein Land.
Die andere Möglichkeit (das ein wenig arrogante "was-kümmert-mich-der-andere?", das Portugal gern gegen schwächere Teams praktiziert hat) halte ich für deutlich unwahrscheinlicher.
Italien kann seinerseits die Spanien-Taktik auch für das Deutschland-Spiel anwenden: da stand man den im Offensivfall fünf spanischen Angreifern mit einer 5er-Abwehr und einem davor schon stark nervenden Dreier-Mittelfeld entgegen, nicht ohne darauf zu verzichten, eroberte Bälle schnell in die extra dafür aufgebotenen giftigen Spitzen reinzuspielen und dann auch noch einen Flügel und den einen oder anderen Mittelfeldspieler nachzuschicken. Da das Tempo nicht stark variierte, sondern durchgehend hoch blieb, kam als Resultat ein dichtes, auf seine Art offenes Spiel, das (spannungstechnisch) zwar nicht mit dem heroischen Anrennen im Viertelfinale gegen England zu vergleichen war, aber deutlich mehr Niveau und letztlich auch Dramatik in sich barg, heraus.
Italien kann dieses 5-3-2 gleichwie defensiver, als auch sehr offensiv interpretieren. Dasselbe gilt auch für das 4-4-2, das in zwei Spielen bei dieser Euro auch hochunterschiedlich ausgelegt wurde: einmal war das Mittelfeld da eine echte Kette, das andere war es in Rautenform arrangiert. Cesare Prandelli, der Meistercoach, hat alle Optionen und kann sich auch sicher sein, dass seine Aufstellung allein nicht verraten wird, wie er sein Spiel anlegen wird - aktuell steht er damit im Gegensatz zu Del Bosque und Löw, die mit der Bekanntgabe ihrer Formation letztlich auch ihre Taktik verraten. Es sein denn, diese beiden haben sich ihrerseits etwas ganz Spezielles überlegt fürs Semifinale. Möglich ist das.
Ich erwarte Portugal mit seiner Deutschland-Taktik gegen Spanien und Italien mit seiner Spanien-Taktik gegen Deutschland. Und ich erwarte Spanien und Deutschland wie Deutschland und Spanien.