Erstellt am: 27. 6. 2012 - 19:13 Uhr
Entschleunigung
- Acid Pauli kommt am 8. Juli nach Wien.
Ich kenne keinen Menschen, der, nachdem er ihn auflegen gesehen hat, Acid Pauli nicht mit Haut und Haar verfallen wäre. Acid Paulis DJ-Sets sind stundenlange Abenteuer, bei denen alles passieren kann. Sein Johnny Cash-Remix von "I See A Darkness" ist ein heimlicher Hit, der auf Ewigkeiten in den Hörer-Herzen eingraviert ist.
acid pauli
Mit "mst" ist letzte Woche ein Album von Acid Pauli erschienen, das ein derartiger Hörgenuss ist und die Synapsen derart zum Klicken bringt, dass jedem und jeder empfohlen sei, es sich von Anfang bis Ende ohne Störung durch andere Reize anzuhören. Es zahlt sich aus.
Jeder Musiknäherbringer, der etwas auf sich hält, liest, bevor er einen Review oder eine Empfehlung beginnt, den mit der Musik mit gereichten Promozettel durch. Im besten Fall kriegt man da die Grundlageninformationen was, wann, wo und im schlechtesten Fall sind das die Blaupausen, von denen abgeschrieben wird, weil niemandem etwas einfällt und es zur Musik sowieso nichts zu sagen gibt.
Im Fall von Acid Pauli habe ich einfach nur ein paar Files bekommen. Ich wußte also gar nichts außer den Namen des Interpreten. Das allein reichte, um einen ganzen Ideensturm zu entfachen.
mts
Acid Pauli ist polyrhythmisch vertrackt unterwegs, er ist bei seinen DJ-Sets ein Freund der Entschleunigung und auch "A Clone Is A Clone", der erste richtige Track nach dem schlicht „open“ benannten Intro, ist ein siebeneinhalbminütiges Stück Musik für Stunden, in denen man sich schon aus dem Raum-Zeit-Kontinuum getanzt hat. In der Chronologie der Nummer tauchen verschiedene Samples und Ideen auf, Geisterstimmen, die durch einen Jazzclub schweben. Auf der nächsten Nummer "Palomitastep" trifft elegisch-sehnsüchtige Schwere auf Clicks und Cuts. Ich habe bei meinem ersten Hörexperiment meine von Wahlheimatsehnsucht zerfressene mexikanische Posse an meiner Seite.
Obwohl ich strenges Kommentarverbot auferlegt habe, bricht es nach 10 Minuten "mst"-Hören heraus: "Heimweh! Das klingt nach Kaktustee in der Wüste trinken, nach dehnbaren Räumen, rauem Berghochland, wo die Luft dünn wird." Ich setzte meinen strengen Ich-bin-Profi-Musikkritikerin-Blick auf, um meine Planlosigkeit zu verbergen und schon der nächste Titel gibt dieser assoziativen Richtung Recht. "Equation Of Time", ein wunderbarer subtiler Jazzgroove im Acid Pauli-Reich der introspektiven Verlangsamung. Für die einen passiert es auf den Gipfeln der Sierra Madre, für die anderen Dienstag früh nach18 Stunden Afterhour an den Ufern der Spree.
Acid Pauli
Beim folgenden kleinen Meisterwerk auf "mst" wird klar, dass wir (inzwischen habe ich auch die Südamerikaassoziation zu der meinigen gemacht) vielleicht doch nicht so falsch liegen: La voz tan tierna, "die Stimme so sanft" ist ein fragmentierter Cumbia. Cumbia zieht sich durch ganz Südamerika und vermischt afrikanische Rhythmik mit spanischen Melodien.
Damit ihr mich nicht der grenzenlosen Egozentrik beschuldigen könnt, sei hier noch kurz angefügt, was die geehrten Reviewer-KollegInnen noch so zu "mst" von Acid Pauli zu sagen haben: Nicola Jaar, Nicolas Jaar, Nicolas Jaar!
"Mst" ist auf "Clown and Sunset", dem Label von Jaar erschienen und nicht nur deshalb werden an allen Ecken und Enden Analogien gewoben : zwischen dem Gefühl der Entschleunigung, dem Aufziehen von Räumen, dem feinsinnigen Gefühl für komplexe Komposition das durch das Werk beider Musiker zu schweben scheint. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich ganz tief verbeuge für eine Platte, die keine Hintergrundmusik ist, die kein Soundtrack zu einer Befindlichkeit ist, die kein Afterhour-Abenteuer ist sondern für ein Werk, bei dem man selbst herausfinden muss wohin es einen beamt.
Ein Acid Pauli Special mit Material aus dem neuen Album sowie aktuellen Remixes gibt es im Liquid Radio am Sonntag, den 1.Juli zu hören.