Erstellt am: 20. 6. 2012 - 13:04 Uhr
Was man gelesen haben sollte bis man 30 wird
Der Anfang war vielversprechend. Die Liste beginnt mit Homers „Ilias“ und „Odyssee“. Ich wage zu behaupten, dass es nur Wenige gibt, die heutzutage von sich sagen können, dass sie diese Klassiker der antiken Literatur schon vor ihrem 30. Lebensjahr gelesen haben.
Ich bin schon seit frühen Kindesalter sowohl mit dem Trojanischen Krieg, als auch mit der Rückreise des klugen Odysseus nach Ithaka vertraut. Im Kindergarten blieben immer ich und mein Freund Ivantscho immer als letzte übrig, wartend bis uns unsere Eltern abholen. Die armen Kindergartentanten. Sie standen da zwischen Skylla und Charybdis. Ich, der damals, wie auch heute, sehr schwer den Mund zumachen könnte, belästigte sie ständig mit Geschichten über den Kampf zwischen Achilles und Hektor. Und Ivantscho versuchte, ihn „live“ zu demonstrieren, indem er sich immer wieder auf meine alleswisserische Person stürzte.
Nein, zu dieser Zeit habe ich die Ilias und die Odyssee noch nicht gelesen, ich hatte wie alle normalen Kinder immer noch „Micky Mouse“-Hefte als Lektüre. Mein Vater aber erzählte mir jeden Abend als Gute-Nacht-Geschichte eine Story von Homer und ich träumte die ganze Nacht vom starken Achilles, vom listigen Odysseus und einigen Jahren später immer mehr von Briseis und von der schönen Helena.
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Nachdem ich mich gefreut habe, dass ich die ersten und somit wichtigsten Bücher in der Liste schon gelesen habe, warf ich ein Blick darauf, welches Buch dann ganz zum Schluss steht. Ha! Dieses Buch hatte ich auch gelesen. Wie ein Freund von mir, der sehr gerne Krimis liest und nach dem ersten Mord immer im letzten Kapitel schaut, um zu erfahren, wer der Mörder ist, freute ich mich, dass ich schon alles in der Liste gelesen habe.
Das letzte Buch auf dieser amerikanischen Liste ist „Der Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson. Das ist auch ein Buch, den ich seit meiner Kindheit kenne. Einmal versuchte ich sogar ein Mädchen aufzureißen, indem ich ihr vom Buch erzählt habe. Ich war 14 und sie zwei Jahre älter als ich.
Immer auf die Zehenspitzen zu stehen, um zu zeigen wie groß gewachsen bin, erwies sich als eine schwierige Aufgabe. Deshalb wollte ich sie beeindrucken, indem ich ihr erzählte, wie viel ich schon gelesen habe. Ich erzählte ihr von der Schatzinsel. Sie war aber leider nicht romantisch eingestellt. Als sie erfahren hatte, dass sich der Schatz auf einer fernen Insel befindet und nicht in meiner Tasche, ging sie lieber mit einem 12.Klässler Bier trinken. Das war viel sicherer als der ferne Schatz, den Long John Silver so gerne finden will.
Als letztes schaute ich auf den Rest der Liste. Dann stellte ich mit einem Schrecken fest, dass ich nur 60% von den Büchern auf der Liste schon durch habe und mir nur noch vier Jahre zu Verfügung stehen, um mit den anderen fertig zu werden.
Insgesamt gibt es auf dieser Liste hauptsächlich Bücher amerikanischer Autoren und zu 90% Autoren, die ihre Bücher auf Englisch geschrieben haben. Das heißt nicht, dass man die Bücher, die darauf stehen, nicht lesen soll, aber es ist lächerlich eine Liste zu machen, die „Bücher, die man lesen sollte, bis man 30 wird“ heißt, und dann kommt kein einziger französischen, nur ein deutscher und kein russischer Autor vor. Es gibt auch keinen österreichischen. Kein Kafka, keine Jelinek. Von polnischen, tschechischen oder ungarischen ganz zu schweigen.
Es ist sehr typisch, dass die Vertreter der kleinen Völker für die Kultur der großen interessieren, die großen hingegen sich für kleine überhaupt keine Gedanken machen. Ich komme von einem kleinen und armen Land, deshalb bin ich offen für alles.
Ich habe noch vier Jahre, um die Liste der Amerikaner fertig zu lesen. Ich frage mich, aber wie lange sie brauchen werden, um meine Liste zu schaffen, wenn ich eine solche fertigstellen werde?