Erstellt am: 18. 6. 2012 - 19:06 Uhr
Neuland in den Soundmeeren
Mit Barcelona hatte ich für einige Jahre eine Krise der emotionalen Art. Meine Liebe war geknickt. Zu viele sandgestrahlte Wände ohne Graffiti, zu viele Retro-Second Hand-Hipster-Läden, die Menschen Popkultur, die sie nicht erlebt haben - Beastie Boys Vintage Shirts für 45 Euro - verkauften. Es war zu viel Style, zu wenig Substanz. Aber mit der Krise kam ein Stück altes Barcelona zurück und damit auch meine Liebe. Es gibt wieder Tags auf den Häuserwänden, es gibt wieder Menschen, die auf der Straße herumhängen, es gibt wieder echte Wühlkörbe mit altem Zeug.
natalie brunner
Der Anlass meiner Barcelona-Reise war das Sonar. Die Musik- und Musikindustrie-Veranstaltung lockt an die 100.000 Menschen an, 15 Prozent sind aus Barcelona, der Rest Touristen. Was im Idealfall eine Viertelmillion zusätzliche Nächtigungen bringt. Die ravenden Wahnsinnigen und die Kontakte knüpfenden Musikindustriemenschen sind als Wirtschaftsfaktor erkannt und akzeptiert. So gibt es in der Stadt keine Hotelterrasse, keinen Pool, keinen Strand, der an diesem Wochenende nicht bespielt wird.
natalie brunner
Die schönste Off-Party beim Sonar ist traditionsgemäß das BBQ der Music Acdemy. Ich bin dieses Jahr die glücklichste Frau der Welt, da in der Flying Lotus und Thundercat-Entourage der Hip Hop Produzent Just Blaze seinen Weg nach Barcelona gefunden hat. Just Blaze ein Set spielen zu hören, das zu Beginn nur aus seinen eigenen Hit Produktionen besteht, füllt meine Glückstanks mit Treibstoff für die nächsten Tage.
„Mama Essen ist eingepackt und ich bin auf dem Weg zur Sonar“ schrieb El_Txef_A auf seiner Facebook-Wall. Der baskische Musiker erinnert mich an Sport Goofy. Er grinst permanent und seine liebreizende Freundlichkeit ist auch in dem Wesen seiner Musik reflektiert. Er spielte am Donnerstagnachmittag zur Eröffnung der Sonar untertags im Hof des Museums ein sphärisches, deepes Eröffnungsset. Es ist halb zwei, die Sonne scheint und es gibt keine Anlaufzeit und kein verpeiltes Herumlungern.
natalie brunner
Nach El_Txef_A übernimmt Flying Lotus und seine Brainfeeder Posse die Open Air Bühne. Ich weiß nicht, wo spanische Musikkritiker abhängen, während sie ihre Reviews zusammenbrauen, aber von jemanden wie Flying Lotus, der stundenlang neben der Bühne abhängt, um sich mit den FreundInnen seiner Werke zu unterhalten, zu behaupten, er sei in Wesen wie Werk abgehoben und arrogant verstehe ich nicht. Ganz viel Liebe hab ich da in der Lust und den Klangwellen gespürt.
natalie brunner
Lapalux, der schon als erster gespielt hat, ist ein junger, britischer Producer, der mit seinen Remixen und Bootlegs weite, verhallte, Neukonstruktionen von Hip Hop und Soul erschafft. Er ist ein guter Indikator dafür, was für ein sonisches Erdbeben das Auftauchen von Flying Lotus ausgelöst hat. Es ist ein emotional sphärisches Neuland zwischen Abstraktion, Dub und Psychedelica aus den Soundmeeren aufgetaucht.
Jeremiah Jae ist ein in Chicago beheimatetes Multitalent: MC ,Producer, Visual Artist. Seine Beats kommen vom Laptop und er ist am Mike. Leider ist der Museumshof nicht der richtige Rahmen für seine politisch und poetischen brillanten Analysen der sozialen Apokalypse im Nachwirken von Hurricane Katrina. Sein Debüt-Album wird demnächst erscheinen, meine Kopie ist im Plattenladen des Vertrauens bereits reserviert.
natalie brunner
Nach diesem Eröffnungstag ist festzustellen, dass wir in Österreich eigentlich gar nicht so schlecht aufgestellt sind. John Talabot, El Txef A, Thundercat, DJ Spinn und Rashad, sie alle waren in den letzten Wochen bei uns zu sehen. Festival-Wahnsinn hin oder her, die Eindrücke, die man an einem Abend, an den man sich nur auf den Soundkosmos eines Artist konzentrieren kann, graben sich tiefer in meine Hirnrinde ein, als das, was man bei einem viertägigen sensorischen Bombardement mitnehmen kann.
So wie Thundercat, der erst letzten Dienstag als Gast von The Loud Minority und der Praterei im Porgy und Bess gespielt hat. Er ist für mich 2012 die Definition von Parliament geprägter Dopeness. Außerdem werden Thundercat und seine Band in meiner Biographie als der wichtigste Geburtshelfer meiner Liebe zu Jazz eingehen. Und seine Outfits werde ich auch nicht mehr vergessen.
natalie brunner
"Avantgarde Beats für die Nintendo Generation" nannte Flying Lotus das Sonar noch vor zwei Jahren. Dass diese Definition zu klein und zu banal für das, was Flying Lotus geschaffen und losgetreten haben ist, ist inzwischen erkannt worden. Vom Schöpfer von Parallel-Universen, abstrakten Galaxien mit den Gestirnen Jazz, Hip Hop, psychedelische Electronica und Dub ist inzwischen die Rede. Vielleicht ist die Weltraum-Terminologie, die zu seinem 2010 erschienen Album Cosmogramma passend ist, aber auch schon wieder überholt. Sein demnächst erscheinendes Album wird den Titel "Until the Quiet Comes" tragen und so ein Name verspricht Großes. Bei der Sonar in Sao Paulo konnte man bereits Kostproben hören. Am Donnerstag kämpfte Flying Lotus, der Dorian Concept eingeladen hatte, mit ihm zu spielen, aber leider mit Sound-Problemen.
rbma
Die Stage der Red Bull Music Academy war das Party Grand Central der Sonar bei Tag. Meine neue Lieblings-DJ habe ich dort kennengelernt. Sie heißt Nightwave und spielt eine Mischung aus Booty, UK Bass, Grime und all dem was Menschen, die es rough und dirty mögen sonst noch so in Verzückung versetzt. In ihrer Biographie steht interessanter, wahrer oder auch gut erfundener Blödsinn, wie dass sie slowenischer Judochamp sei, Penelope Cruz' Bodydouble, Motion Capture Actor für das Computerspiel Hero, etc. Die interessantere, unter der Hand-Information kommt aber von meinem Freund Felix, der mir erzählt, dass sie niemals ohne den britischen Producer Rustie anzutreffen ist, bzw. er ohne sie, und sie auch die Vocals zu seinen Tracks beisteuert. Nightwaves Set ist groß und sie kommt aufgelöst und weinend von der Bühne. Ihre Freundinnen nehmen sie in Empfang und sind so ergriffen, dass auch sie zu weinen beginnen. Ich bin auch so gerührt, dass ich auch fast losheule. Rustie beruhigt sie, eine große Frau von kleiner Statur.
rbma
Sizarr, denen meine Kollegin Susi Ondrusova unterstellt, die nächsten Animal Collective aus Reinland Pfalz zu sein, spielen ebenfalls auf der Bühne der Music Academy. Obwohl Gitarren nur in seltenen Fällen meine Abteilung sind, kann ich mit einem Songtitel wie "Psychoborderlinexwife" durchaus etwas anfangen.
Will man anhand der von mir gehörten Sets gleich einem Börsenmakler Tendenzen aufzeigen - wir wissen inzwischen, wie fatal so etwas enden kann, ich tu es dennoch - dann könnte man meinen Booty ist groß 2012.
Meine Helden DJ Spinn und Rashad haben nicht nur letzte Woche die Sexy Deutsch Party in Wien in ein schweißgetränktes Bounce-Armageddon verwandelt, sie haben auch als letzter Act der Sonar bei Tag die Stage der Music Academy zerlegt.
rbma
Ich bin Baile Funk und DJ Assault geschult, aber nach vierzig Minuten musste ich aufgeben. Juke ist in Europa 2012 endlich angekommen. DJ Spinn erzählt, dass er den Übergang von Chicago Ghetto House zu Juke mit dem Ende von Dance Mania ansetzt, so mit dem Beginn des neuen Jahrtausend. Warum erst heute, vier Jahre nachdem europäische Musikzeitschriften Juke zu feiern begannen, der Sound endgültig angekommen ist, versteht keiner, aber es ist gut, dass es passiert. Ich breche glücklich bei der Off Party von Exploited Records, die idealerweise in meinem Hotel ist, in der Besenkammer aka Backstage zusammen. Ich trinke dann doch noch Shir Kahn und Cocolores ihre Drinks weg, hüpfe herum, weil auch hier musikalische Größe und schreiende House-Aficonados Kontakt High erzeugen und dann mit dem Lift direkt rauf ins Bettchen.
natalie brunner
Es ist so gut und so schön und das war erst Tag eins.