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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

17. 6. 2012 - 15:52

EM-Journal '12-45.

Über Glaskinne und Scheren. Die Verabschiedung von Russland und Polen.

Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.

Die Spiele der Gruppe A:

Runde 1: Polen - Griechenland, 1:1; und Russland - Tschechien 4:1.

Runde 2: Griechenland gegen Tschechien 1:2 und Polen - Russland, 1:1.

Runde 3: Tschechien gegen Polen 1:0 und Griechenland - Russland 1:0.

Die Profile der Teams:
Gruppe A
Polen / Griechenland
Russland / Tschechien

Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.

FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen. Für Regenwetter gibt es Indoors-Screens.

Nach jedem der nun folgenden letzten Gruppenrundentage folgt die gebührliche (und analytische) Verabschiedung der Ausgeschiedenen.
Mit den Weiterkommern werden wir die nächsten Tage eh noch genug zu tun haben.

Der Champ mit dem Glaskinn: ausgeknockt

Team Russland hat keinen Fehler gemacht. Zumindest keinen neuen. Team Russland ist wegen seiner alten, bekannten Fehler aus dem Turnier gekippt. Und das nicht obwohl man sich in der leichtesten Gruppe als eigentlich spielstärksten Team hätte durchsetzen müssen, sondern gerade weil der Job der Mannschaft zu einfach erschien.

Ich mag dieses Team, allerspätestens seit der Euro 08, wo sie eine meiner Lieblinge waren (und seitdem hat sich personell ja nicht allzu viel getan). Ich mag seine moderne, spiel- und offensivstarke Ausrichtung, weswegen meine Analysen partiell manchmal allzu positiv gefärbt sind.

Allerdings muss mich hier jetzt kurz selber zitieren.
Aus der Team_Vorstellung vom 2. Juni: "Wenn Advocaats Team seine Erfahrung, die taktische Cleverness und die individuelle Klasse abrufen kann, könnte sie sogar richtiggehend durchmarschieren. Irgendwie mag ich dieser Idylle aber nicht trauen. Das russische Team ist immer für einen grotesken Ausrutscher gut und tut sich gern ein wenig zu sehr leid, wenn etwas nicht so klappt, wie man es gern hätte."

Ich würde sagen: genau das ist passiert; nämlich alles zusammen. Zuerst deutet man die Möglichkeit des Durchmarsches an, blendet sich und Öffentlichkeit mit dem (zu) hohen Startsieg über die bereits in diesem Moment (und von mir auch im Übermaß angesprochenen Probleme hinweg; dann begnügt man sich gegen den Gastgeber mit einer brauchbaren Hälfte und spielt schlussendlich mutlos auf ein Remis; und dann kommt im 3. Spiel einer der grotesken Ausrutscher, der dann in die Selbstmitleid-Spirale und die Nachdrucklosigkeit mündet, die letztlich zum Ausscheiden führt.

Es ist eben der Champ mit dem Glaskinn, das ein gut eingestellter Gegner gar nicht so schwer treffen kann.

RUSSLAND

Tor: 1 Igor Akinfeev (ZSKA Moskau), 16 Vyacheslav Malafeev (Zenit St Peters-burg), 13 Anton Shunin (Dinamo Moskau).

Abwehr: 2 Aleksandr Anyukov (Zenit St Peters-burg), 21 Kirill Nababkin, 12 Aleksei Berezutski, 4 Sergei Ignashevich (ZSKA Moskau), 19 Vladimir Granat (Dinamo Moskau), 3 Roman Sharonov (Rubin Kazan), 5 Yuri Zhirkov (Anzhi Makhachkala).

Mittelfeld: 7 Igor Denisov, 6 Roman Shirokov, 8 Konstantin Zyryanov (Zenit St Petersburg), 22 Denis Glushakov (Lokomotiv Moskau), 23 Igor Semshov (Dinamo Moskau), 9 Marat Izmailov (Sporting/POR), 17 Alan Dzagoev (ZSKA Moskau), 18 Aleksandr Kokorin (Dinamo Moskau), 15 Dmitri Kombarov (Spartak Moskau).

Angriff: 10 Andrey Arshavin, 11 Aleksandr Kerzhakov (Zenit St Petersburg), 14 Roman Pavlyuchenko (Lokomotiv Moskau), 20 Pavel Pogrebnyak (Fulham/ ENG).

Hat Advocaat seine Optionen genutzt?

Durchaus.
Am Coach, am klar definierten System, am Personal lag es nicht. Es lag an der Einstellung, und die wäre nur mental zu trainieren; und die hat im Fall der Russen auch was mit der Bunkermentalität des nationalen Fußballs zu tun.

Tormann Malefeev hat Akinfeev erstklassig ersetzt. Die Alternativen in der Abwehr wären nicht gut genug gewesen, obwohl deren Defensiv-Patzer legendär sind. Im Mittelfeld wurden alle sinnhaften Optionen durchgespielt, und im Angriff haben der ohnehin nicht fitte Pavlyuchenko und der matte Pogrebnyak belegt, dass sie eh nicht besser als Kerzhakov sind.

Beeindruckend, zumindest in seinen offensiven Ansätzen, war wieder einmal Yuri Zhirkov, der der beste linke Verteidiger der Welt sein könnte, wenn er nicht ein zentraler Vertreter dieser Glaskinnhaftigkeit wäre. Shirokov und Denisov hatten je ein grandioses Spiel, Arshavin war ein würdiger Kapitän, aber einer der halt auch schon mit den Abnützungserscheinungen kämpft.
Die Entdeckung bleibt Alan Dzagoev, nicht nur wegen seiner Tore: er war der einzige der Russen, der sich im Vergleich zu früheren internationalen Auftritten steigern konnte.

Um ihn und ein paar andere der Jüngeren wird sich die Mannschaft zusammenfinden, die ab jetzt dann für die Heim-WM 2018 aufgebaut werden wird. Die allermeisten dieser eigentlich großen Mannschaft, die es historisch eben nur auf ein EM-Semifinale (2008) gebracht hat, werden dieses Turnier aber nur als Ehrengäste erleben.

Das Heimteam mit der Rückfall-Garantie

Es hat drei Spiele lang komisch ausgeschaut: da rennt eine Mannschaft minutenlang nach vorne, als wäre der Teufel hinter ihr her, spielt sich und ihr Heim-Publikum in einen Rausch, nur um dann zumindest ebenso lang völlig verstört und vom jeweiligen Gegner paralysiert über den Rasen zu schleichen und sich brav seine Watschen abzuholen.

Team Polska ist das zweimal so ergangen: Im Auftaktspiel gegen Griechenland gab man die zweite Halbzeit einfach her, wie ein Kind in der Sandkiste, das all seine Spielsachen einfach verschenkt und dann nur noch dasitzt und zuschaut. Das ist lieb, bedeutet aber bei einem Fußballspiel nichts Gutes. Kann aber schon einmal passieren.

Wenn es dann aber im dritten Spiel, in einem echten Finale gegen Tschechien, genau wieder vorkommt, genau gleich, fast erschreckend identisch, dann stimmt etwas mit der Psyche, also dem System hinter dem System nicht.
Dann ist da keine Mannschaft beinander.

POLEN

Tor: 1 Wojciech Szczęsny (Arsenal/ENG), 22 Przemysław Tytoń (PSV Eindhoven/NED), 12 Grzegorz Sandomierski (Jagiellonia Białystok -> Genk/BEL).

Abwehr: 20 Łukasz Piszczek (Borussia Dortmund/D), 2 Sebastian Boenisch (Werder Bremen/D), 13 Marcin Wasilewski (Anderlecht/ BEL), 15 Damien Perquis (Sochaux/FRA), 14 Jakub Wawrzyniak (Legia Warszawa), 3 Grzegorz Wojtkowiak, 4 Marcin Kamiński (Lech Poznań).

Mittelfeld: 16 Jakub "Kuba" Błaszczykowski (Borussia Dortmund/D), 5 Dariusz Dudka (Auxerre/FRA), 6 Adam Matuszczyk (Fortuna Düsseldorf/D), 7 Eugen Polanski (Mainz/ D), 11 Rafal Murawski (Lech Poznań), 10 Ludovic Obraniak (Girondins Bordeaux/FRA), 8 Maciej Rybus (Terek Grozny/ RUS), 21 Kamil Grosicki (SivasSpor/TUR), 19 Rafał Wolski (Legia Warszawa).

Angriff: 18 Adrian Mierzejewski (Trabzon/ TUR), 23 Paweł Brożek (Celtic Glasgow/ SCO), 9 Robert Lewandowski (Borussia Dortmund/D), 17 Artur Sobiech (Hannover/ D).

Dieser These widerspricht dann aber wieder das zweite Match: da drehte Smudas Elf das Match noch in einem Gewaltakt. Es ging aber zum einen gegen den alten Hass-Nachbarn, Russland - was auch andere Kräfte mobilisiert; und die Russen waren mit dem Unentschieden merkbar zufrieden - was den polnischen Erfolg dann auch wieder relativiert.
Zudem war der Matchplan für die 1. Hälfte auch der eigentlich Falsche: Teams die so vogelwild attackieren wie die Polen, kommen dem russischen Spiel total entgegen, laufen ihnen eigentlich ins Messer.

Das alles spricht dafür, dass eine taktisch und strategisch unreife Mannschaft verfrüht in ein Turnier gehen musste, das die eigenen Möglichkeiten überstieg. Erinnert das noch jemanden an Österreich 2008?

Hat Smuda seine Optionen genutzt?

Was die Torhüter-Position betrifft allemal.
Dass Sebastian Boenisch links dann doch eine letztlich gute Leistung ablieferte, hake ich als positive Überraschung ab.
Überhaupt: Die Schuld jetzt den Franzosen und den Deutschen zu geben, die sich der polnische Verband gekapert hat, um personell aufzurüsten und der Dortmund-Fraktion ein paar weitere international taugliche Kicker zur Verfügung zu stellen, funktioniert nicht. Boenisch, Polanski, Perquis und Obraniak waren durchaus Lichtblicke. Und die starke rechte Seite mit Piszczek, Kuba und Lewandowski hatte die stärksten polnischen Momente. Vielleicht hat Smuda den Flügelspieler Grosicki zu spät gebracht - der hätte links eventuell einen stärkeren Gegenpol anbieten können.

Smuda hat zwischen 4-2-3-1, 4-3-3 und 4-2-4 letztlich alles erprobt, aber am System lag es eben nicht. Ebenso wenig am möglichen Personal; auch die ausrangierten Suff-Sünder wie Peszko hätten das Kraut nicht fett gemacht - Polens Nationalteam scheiterte am Fehlen "ein ausgewogenes Teamgefüge" (Zitat aus meiner Preview) und letztlich zerbrach man an der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Und scheiterte absurderweise auch an der schlechten Vorbereitung der Ukraine. Weil man nämlich im Vorfeld deshalb als der bessere der beiden Gastgeber dastand, konzentrierte sich der Fokus der Weltmedien auf die Polen; und vergrößerte die Schere damit.

Die andere Schere, die im Kopf, die die nach 20 guten Minuten einfach alles abschnitt - sie ist nur psychohygienisch zu erklären und auch zu behandeln.
Nur: wird keiner tun.
Polen wird die nächsten zig Jahre kein Turnier mehr ausrichten, wird also nie mehr in eine solche Position kommen. Während die infrastrukturellen Maßnahmen die für diese Euro vorgenommen wurden, Chancen auf nachhaltige Wirkung haben, verpufft eine mögliche sportliche Hochphase jetzt im Nichts. Wie damals in Österreich, als auf die Euro ein paar düstere Jahre folgten.