Erstellt am: 12. 6. 2012 - 12:38 Uhr
Menschen und andere Companion Species
Was für eine Kehrtwendung: Zuerst ärgerte man sich wie alle fünf Jahre wieder über die rituelle Geheimhaltungspolitik in Kassel. Später tippte man sich an die Stirn, als die Weltpresse mit irrlichternden Verstiegenheiten über das Seelenheil von Mineralien, die Sanges- und Tanzeslust von Photonen oder die vergessenen politischen Intentionen unterdrückter Spezien wie Erdbeeren in Abschusslaune versetzt wurde. Dazu noch der ganze Hundewahn einer angeblich drohenden dogumenta! Und dann kommt man nach Kassel, und alles ist ganz anders, als es ein Journalist bei der Pressekonferenz befürchtet, der angesichts der stolz eingestandenen Verwirrtheit und der mantraartig propagierten Konzeptlosigkeit der Documenta13-Leiterin Carloyn Christov-Bakargiev gar schon den Rückfall hinter schlappe zweieinhalb Jahrtausende Zivilisation prophezeite.
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Die Ausstellung wird nun teils hymnisch abgefeiert. Und das, obwohl oder gerade weil sie Hunden nicht gefallen wird, und zwar schon deshalb, weil diese fast überall draußen bleiben müssen. Die Documenta handelt nämlich, allem abgedrehten Gerede von der Abkehr vom Anthropozentrismus zum Trotz, von vor allem sinnlichen Erfahrungen und einem intuitivem Wissen für eine von Krisen bestimmte Zeit, wie es nur von Menschen bereit gestellt werden kann.
Es gibt dieses Jahr in der Ausstellung wenig zu lesen und viel zu schauen – und zu erwandern. Die Documenta feiert, fast konservativ, den oft um Distanz ringenden Eigensinn des künstlerischen Aktes und verzichtet dafür weitgehend auf die in vergleichbaren Ausstellungen oft ermüdenden Antikapitalismusslogans von der Stange und die übliche dokumentaristische Anklagerhetorik. Das heißt aber natürlich noch lange nicht, dass hier keine kritischen Töne und keine weltverbessererischen Ansprüche zu vernehmen wären.
Kein Generalthema
Von einer alternativen Tauschökonomie bis zum Wunsch nach dem Eintrag der Erdatmosphäre in die Weltkulturerbliste finden sich konkrete Vorschläge, und zahlreiche politisch brisante Arbeiten ranken sich um die Brennpunkte Naher Osten und Afghanistan. Aber all diese Einsprüche verfolgen eine störrische, fiktional durchsetzte Logik, die sich nicht zu einem instrumentalisierbaren Programm fügen will. Zur Unübersichtlichkeit gehört auch, dass tatsächlich kein - ohnehin auch ansonsten bei derartigen Riesenprojekten der Komplexität und Diversität der Kunstwerke kaum gerecht werdendes – Generalthema ausgegeben wurde.
So zeigt sich diese Documenta letztendlich politisch korrekter, als man zunächst annahm. Sie nimmt das Gebot der Achtung des Anderen ernst und weitet es tendenziell auf das Nichtmenschliche aus. Das kann man natürlich belächeln; es bleibt aber trotzdem ein ambitioniertes Unterfangen. Die Documenta könnte sich als Testgelände für ein neue Ethik entpuppen, die wir angesichts von Humanbiologie, Genforschung und dem Horror der industriellen Tierverwertung so oder so bald erfinden werden müssen. Zugleich aber bleibt diese Weltumarmung seltsam unpolitisch, weil sie sich kaum für die konkrete Gesellschaft und ihre realen Kämpfe und Allianzbildungen interessiert. Kein Wunder, dass Christov-Bakargiev gern von individueller Heilung statt von gemeinschaftlicher Emanzipation spricht und man in Kassel keine Occupy-Chöre vernimmt, sondern den Anweisungen von Selfmade-Angsttherapeuten oder dem Personal eines „Sanatoriums“ im Rotkreuz-Look für beschädigte Kunsttouristenseelen lauscht.
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Was soll man nun sehen in dieser expansiven Schau, die sich diesmal auch weit in den Stadtkörper hinein erstreckt und sich auch die Natur der Karlsaue zu eigen macht? Ich selbst konnte in den zwei Tagen nur einen Bruchteil dessen sehen, und wie das so ist: Kaum ist man weg, bekommt man noch die angeblich besten Tipps ans Handy nachgeschickt. Auf jeden Fall kann ich sagen: Es ist besser, sich drei als nur zwei Tage Zeit zu nehmen. Und: ein Fahrrad, gerade für die Erkundung des Parks, wäre nicht schlecht. Hier also drei Tipps von dreihundert:
Das leidende Herz der Documenta am Kulturbahnhof
Dort weht der lange Atem der Geschichte. Der Berliner Künstler Clemens von Wedemeyer analysiert in einer klugen, identifikationskritischen Arbeit auf drei Leinwänden das Verhältnis heutiger Jugendlicher zur Gedenkstätte Breitenau bei Kassel, an dessem Ort einst ein Konzentrationslager und später ein Mädchenerziehungsheim errichtet war. Über einem verlassenen Gleis wird eine wie von Geisterhand dirigierte Choreographie von sich öffnenden und schließenden Jalousien abgespielt, ein Eingang wie in der Geisterbahn im Prater führt zu einem Grottenkino, indem ein Film zur mexikanischen Psychiatrie läuft. Eine trotz der Monumentalität eigentümlich subtile Ruinenromantik verströmt ein im Auslauf des Bahnhofs platzierter Industrieschrotthaufen, während in einer Videoarbeit ein Müllhaufen eines indischen Slums zum Laufsteg für eine Ballerina in weiß wird.
Es ist ein schmaler Grat zwischen der Konstruktion von bedeutungsaufgeladenen Szenerien und deren Fetischisierung In solchen Momenten kippt die Vergegenwärtigung des Leids der Müllmenschen in Indien jedenfalls in deren krause Poetisierung. Dazu gesellt sich noch eine eindrückliche Arbeit des Documenta-Routinier William Kentridge über die Normierung der Zeit im Industriezeitalter: eine perfekt in Szene gesetzte Choreographie einer schnaufenden Holzmaschine, und den Bilder vergehender Galaxien und über die Wände huschender Scherenschnitter von Menschen. Daneben beschwört István Csákány den Produktionsort Näherei, indem er ihn aus hell strahlendem Holz nachbaut und daneben den abwesenden und ungefeierten Helden der Arbeit mit der linken Faust in der Höhe gedenkt, indem er Anzüge als leere Menschenhüllen inszeniert. Die Arbeit heißt übrigens „Ghost keeping“ – und beschwört wie so viele Arbeiten (wie etwa die sehenswerte, raffinierte Installation Walid Raads zur (Selbst-)wahrnehmung arabischer Kunst im Stadtraum) eine Wunde, die die selbsternannte Heilerin Christov-Bakargiev wenn schon nicht schließen, so doch thematisieren will.
Die Videoarbeit von Omer Fast in der Karlsaue
Auch hier geht, fast wie programmatisch zur documenta-Losung Krise und Wiederaufbau, trotz eines unvermittelten auftauchenden Kamels auf einer Straße um das Menschliche, nämlich das Trauma des Afghanistan-Kriegs. Untypischerweise für Fast ist diese Arbeit über ein Paar, das wiederholt junge Männer in Bundeswehruniform von Bahnhof abholt und mit diesen in einer mysteriösen, emotional bedeutsamen und offenbar auch sexuell aufgeladenen Beziehung steht, komplett gescriptet. Sie geht nicht von realen Interviews aus, die meist sonst die Ausgangspunkte für die raffinierten Überblendungen von Fiktion, Dokumentation und Selbstreflektivität der filmisch-medialen Produktion bilden: „Ich brauche die Erfahrung von anderen“, sagt Omer Fast.
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Die Karlsaue
Beim Abstieg von der mit überraschend viel älterer Malerei und Plastik gefüllten Neuen Galerie in den Park schallen einem von Menschen imitierten Tierlaute aus einer im grünen Dickicht versteckten Soundinstallation entgegenschallen: Miau, miau! ruft da ein Franzose und darauf antwortet ein Vogelimitator auf englisch – oder war es umgekehrt? Hunde mit rosa Beinen, rotbackige Bio-Erdbeeren wie aus dem Hexenhand und anderes Wunderliches west und sprießt und gedeiht hier, auf aufgeschütteten Sandhügeln vor der Orangerie im ausladenden Park oder in verwunschenen, so gar nicht zackig deutsch wirkenden Gärten, wie sie die Post-Heckenscherengeneration der Neoheimwerker so liebt. Hier zeigt sich dann doch noch das, was vom abgedrehten Getrommel über das posthumanistische Weltbild übrig bleibt: Es ist ein ganz und gar gutmenschlicher Ökoaktivismus, wie er im biogläubigen Mittelstand Europas längst mehrheitsfähig ist. Der treibt hier manchmal skurrile oder unfreiwillig komische Blüten.
Auch wenn sonst Humor und sogar die gut abgehangene Künstlerironie eher vernachlässigenswerten Kategorie in dieser Schau sind – vielleicht bis auf Ausnahmen wie die lapidaren Kommentare zu Zeitungsbildern von Altstar Roman Ondák oder der hintergründigen, menschendichten Perfomancesubversion von Tino Sehgal, die im kompletten Dunkel unsere Distanzvorstellungen von unserer allerengsten Companion Species, dem Mitmenschen, herausfordert.