Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "EM-Journal '12-23."

Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

9. 6. 2012 - 20:22

EM-Journal '12-23.

Das erste Euro-Gipfeltreffen. Wie Deutschland unter Verzicht auf seine neuen Tugenden das strategisch überlegene Portugal irgendwie zu biegen vermochte.

Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.

Das war der 1:0-Sieg der Dänen gegen die Niederlande im ersten Spiel der Gruppe B.

Die gestrigen Spiele der Gruppe A:
Polen - Griechenland, das ging 1:1 aus; und Russland - Tschechien, das endete 4:1.

Die Profile der sechzehn teilnehmenden Teams:

Gruppe A
Polen
Griechenland
Russland
Tschechien

Gruppe B
Niederlande
Dänemark
Deutschland
Portugal

Gruppe C
Spanien
Italien
Kroatien
Irland

Gruppe D
England
Frankreich
Schweden
Ukraine

Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.

FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.
Bei Regenwetter gibt es Indoors-Screens.

Dieser Sieg macht die Ausgangslage in der Gruppe gleich am nächsten Spieltag doppelt interessant: die Niederlande stehn gegen Deutschland massiv unter Druck, müssen gewinnen, um nicht nach Hause zu fahren; Portugal muss gegen Dänemark gewinnen, und beide Mannschaften sind dann am besten, wenn sie nicht abwartend spielen.

Ein Sieg, der mich nicht so recht zufriedenstellt

... auch weil er nicht wie unter Klinsmann/Löw praktisch immer durch spielerische Überlegenheit, sondern eher durch den alten Dusel der Panzer-Generationen herauserarbeitet wurde.

Das ist ein inhaltlicher Rückschritt bei meinem Co-Favoriten. Ein Rückfall in die nicht Schön-, aber Effektiv-Zeiten, die Ekel-Argumentation von Toni-Schumacher-Figuren, in eine Phase, die nicht mehr wiederkommen wird, die sich maximal noch in den Taten der Idioten-Fans mit ihren Insultationsbällen manifestiert.

Paulo Bentos Portugal war die taktisch überraschendere Mannschaft, das ist eine kleine Sensation und muss dem Löw-Camp ordentlich zu denken geben. Dort, wo man eine ausrechenbare portugiesische Mannschaft erwartet hatte, stand eine Formation, die defensiv fast nicht zu überspielen war, und auch offensiv Zeichen setzte.

Ihr Problem: das riskierten sie erst zu spät; und dann brauchten sie zu viele Chancen. Dass sie für die bislang größte strategische Leistung des Turniers nicht belohnt wurden, ist durchaus schade.

Deutschland ruhte auf den Schultern von Mats Hummels, der neben Neuer und den Ronaldo recht effektiv einengenden Boateng der einzige Deutsche in überragender Form war. Alle anderen waren unter ihrem Level, Lahm und Khedira am überraschendsten, Müller am deutlichsten. Der auch nicht überragende Özil war wie oft der einzige, der Auswege aus den kreativen Löchern fand.

Zeit der Wechsel. Zeit der Entscheidung

In der 70. Minute kommt Nelson Oliveira für den wenig effektiven 23 Helder Postiga im Sturm-Zentrum, nicht etwa Hugo Almeida.

Und dann steht Klose draußen herum und droht Gomez mit der Auswechslung. Und prompt köpft genau der in der 73. Minute nach einem abgefälschten Rechtscross von Khedira die Führung für Deutschland. Klose geht wieder auf die Bank.

Das ist ein Treffer, der ein wenig gegen den Spielverlauf gegangen ist. Denn chancenmäßig war nach dem Auftakt der Halbzeit nix zu sehen, man hatte das Gefühl die DFB-Auswahl fügt sich ihr Schicksal. Aber: sowas gibt's eben nicht, beim deutschen Nachbarn.
Der kontert jetzt in die Angriffe von Portugal hinein.

In der 80. Minute kommt 7 Klose dann echt. Statt 23 Gomez. Hätte direkt nach dem Treffer blöd ausgesehen.
Und beim Gegner ist 18 Varela Silvestre da für 16 Raul Meireles. Bento bringt also einen Außenstürmer für einen zentralen Mittelfeldmann.

Das heißt: Portugal jetzt mit einem 4-2-4. Veloso und Moutinho im Mittelfeld; Varela, der Neue rechtaußen, während Ronaldo ins Zentrum neben Nelson rückt. Aus dieser neuen Position schießt er in der 82. Minute gleich einen gefährlichen Aufsitzer.

Das leitet eine finale Druckphase ein.
In der 84. setzt Nani einen Ball auf die Oberkante der Latte. Das zweite Mal auf Holz geklopft. Und weiter wird Druck gemacht.

In der 87. kommt 18 Kroos für 8 Özil, ein leises Indiz für mehr Ballsicherung.

In der 88. vergibt Varela den Remis-Matchball, nach einem weiten Ball auf Nelson, und zweimaliger gefährlicher Ablage, aber deutsche Körper werfen sich todesmutig in den Ball.

In der 93. Minute scheitert Nani in aussichtsreicher Schuss-Position, dann kommt Lars Bender für Müller und dann gibt's noch einen finalen Corner von Nani, den Bruno Alves verköpft.

Das Konzept von Paulo Bento beginnt aufzugehen

Und die 2. Hälfte beginnt, als würde die Abmachung gelten, überfallsartig kommen die deutsche Flügelangriffe und bringen in einer Minute mehr Action als in der ganzen 1. Halbzeit. Team Portugal antwortet mit einem Nani-Spitzwinkler und einem Ronaldo-Roller, immerhin. Danke an alle!

Und jede der nun folgenden angedeuteten Chancen entspringt dem deutlich höheren Tempo und dem neuen Willen beider Teams in der 2. Halbzeit miteinander Fußball zu spielen - ohne die grundsätzliche Marschrichtung aufzugeben.

Ich denke nicht, dass mögliche Wechsel einen Unterschied machen würden - der Spielstand liegt nicht am Personal, sondern an der Struktur.

Letztlich sieht es aber so aus, als wäre es das Ziel von Paulo Bento dem deutschen Favoriten einen Punkt abzuknöpfen - und das geht nur so, mit einer eng/dicht stehenden Truppe, mit eng ineinander verwobenen Formationen, was defensiv was hermacht, aber offensiv nicht viel bringt.

Für Deutschland ist das jedoch zuwenig. Gegen Portugal kein Mittel gefunden zu haben, wäre ein Gefühl, mit dem Löw und Co sicher extrem ungern schlafen gehen würden, heute Nacht.

Im Duell Boateng-Ronaldo macht der schicke Brillenträger mehr Punkte als der schicke Frisurausführer, Boateng entschärft einen tollen Ball auf den gegnerischen Kapitän in der 64. im letzten Moment (holt sich in der 70. aber eine gelbe Karte).

DEUTSCHLAND

Tor: 1 Manuel Neuer (Bayern München), 12 Tim Wiese (Werder Bremen), 22 Ron Robert Zieler (Hannover).

Abwehr: 4 Benedikt Höwedes (Schalke), 20 Jérôme Boateng, 14 Holger Badstuber, 16 Philipp Lahm (Bayern München), 17 Per Mertesacker (Arsenal/ ENG), 5 Mats Hummels, 3 Marcel Schmelzer (Borussia Dortmund).

Mittelfeld: 6 Sami Khedira, 8 Mesut Özil (Real Madrid/SPA), 7 Bastian Schweinsteiger, 18 Toni Kroos, 13 Thomas Müller (Bayern München), 2 Ilkay Gundogan, 19 Mario Götze (Borussia Dortmund), 15 Lars Bender, 9 Andre Schürrle (Leverkusen), 21 Marco Reus (Mönchen-gladbach), 10 Lukas Podolski (FC Köln -> Arsenal/ENG).

Stürmer: 23 Mario Gomez (Bayern München), 11 Miroslav Klose (Lazio/ITA).

----------------

PORTUGAL

Tor: 1 Eduardo (Benfica), 12 Rui Patricio (Sporting), 22 Beto (CFR Cluj/ROM).

Abwehr: 19 Miguel Lopes (Braga), 21 Joao Pereira (Sporting -> Valencia/ SPA), 2 Bruno Alves (Zenit St Petersburg/RUS), 13 Ricardo Costa (Valencia/ SPA), 14 Rolando (Porto), 3 Pepe, 5 Fabio Coentrao (Real Madrid/SPA).

Mittelfeld: 4 Miguel Veloso (Genoa/ITA), 6 Custodio (Braga), 8 Joao Moutinho (Porto), 16 Raul Meireles (Chelsea/ENG), 15 Ruben Micael (Zaragoza/SPA), Nachrücker: 20 Hugo Viana (Braga).

Offensive: 17 Nani (Manchester United/ENG), 7 Cristiano Ronaldo (Real Madrid/SPA), 10 Ricardo Quaresma, 9 Hugo Almeida (Besiktas/TUR), 23 Helder Postiga (Zaragoza/SPA), 11 Nelson Oliveira (Benfica), 18 Silvestre Varela (Porto).

Sagen wir das war nichts und machen einen Neustart

Die erste Halbzeit wird gestrichen.
Beide Teams brauchen mehr.

Deutschland muss sich auf den Matchplan von Löw und Co besinnen, der wurde nach ein paar guten Startminuten nämlich vergessen, ganz holländisch. Nur über flexibles Flügelspiel in hohem Tempo ist Portugal zu knacken.

Portugal wird sich auch nicht ewig auf das Neutralisieren des Gegners verlassen können, das allein gewinnt keine Spiele. Allerdings ist ihre Strategie eher aufgegangen: man hat den Gegner am Rande der Ärgerlichkeit, könnte einen Konter setzen. Positiv auch: das Mittelfeld rückt eng auf, presst hart und verliert so nie den Kontakt zu Nani/Ronaldo, die ewige Gefahrenquelle.

Eine erste Halbzeit zum Vergessen

Die wohl selben Trottel-Besucher, die zuvor den portugiesischen Corner verhindern wollten, jubeln bei einem längst abgepfiffenem Ball, der im Tor landet. Der Intelligenz-Schere zwischen DFB-Team und den Fans ist immer noch riesig.

Das aktuelle deutsche Dilemma: man probiert es ausschließlich übers Zentrum per Doppelpass, über die Flanken lief jetzt minutenlang nichts. Das ist gegen den eigentlichen Matchplan.

In der Folge schläft das recht tempoarme Spiel vollends ein.

In der 40. Minute geht dann zum ersten Mal nach einer gefühlten Ewigkeit was über die Flügel und sofort entstehen Gefahr-Situationen und auch Chancen für die Deutschen.

Aber die beiden Gelegenheiten bringen keine Sicherheit. In der 42. Minute entwischt Nani Badstuber und wird gelegt (was eine Gelbe nach sich zieht).

Dann dödeln die deutschen Unterstützer wieder mit ihrem Papierkugelspielzeug, bekommen die zweite offizielle Verwarnung (ein Spielabbruch wäre hier wohl schneller möglich als bei nationalen Meisterschaften, wo sowas gern unter den Teppich gekehrt wird). Und nach diesem Corner in der 45. Minute sorgt Pepe für Atemaussetzer: sein Schlenzer geht aber sowas von exakt ans Lattenkreuz und pendelt von dort auf die Linie.

Die ersten Erkenntnisse der ersten Minuten

Deutschland kombiniert sich sofort gut nach vorne, über Boateng und einen Cross, erster Kopfball, erste Präsenz. Und im Gegenstoß leitet Coentrao über seine Seite die erste Chance für sein Team ein.
Die folgende Papierkugelschlacht an der Cornerfahne erinnert mich an die jeden Spieltag üblichen Orgien in Graz.

Die Formationen sind wie erwartet.

Die Innenverteidiger-Paare verteilen sich so: halbrechts 5 Hummels, halblinks 14 Badstuber bei Deutschland, halbrechts 3 Pepe und halblinks 2 Bruno Alves bei Portugal. Ich erwähne das gesondert, weil bei den Vorabaufstellungen in den Mainstream-Medien, auch im TV, wie auch vor diesem Spiel, gern so getan wird, als wär das egal, wer wo steht, da hinten. Ist es nicht, das ist genau aufgeteilt und abgezirkelt. Die mediale Unachtsamkeit, diese läppischen Fehler, was die Rolle der Innenverteidiger betrifft, sind mir ein Dorn im Auge.
Es hat ja in ganz Fußball-Österreich keiner mitbekommen, dass Paul Scharner gegen die Ukraine und Rumänien einmal rechts und einmal links in der Innenverteidigung spielte. Weil es keine Tradition der Achtsamkeit gibt, weshalb sich auch sowas wie eine mediale Fußballkultur nur schwer entwickeln kann.

Die Kombination mit dem Podolski-Abschluss aus der 9. Minute ist wie aus dem Lehrbuch, das alle deutschen Kicker vor diesem Match bekommen haben, entsprungen.

Postigas Tritt gegen Neuer in der 13. Minute wird zurecht mit Gelb bestraft. Das ist aber der portugiesischen Strategie geschuldet: frühes Pressing, dicht gestaffelt stehen sie, machen den Raum eng, die Formationen dicht aneinander, um sich eben nicht auseinanderreißen zu lassen. Sehr gute Taktik.

Die Folgen: guter Vorstoß Ronaldo (ohne Abnehmer für seinen Cross), den Cornerball verfehlt Alves nur um Haaresbreite.

Das alles stellt Deutschland vor Probleme. Und so neutralisiert man einander in diesem 1. Teil der 1. Halbzeit.

Die Ausgangslage vor dem Spiel...

... könnte klarer nicht sein.
Beide Co-Favoriten können den holländischen Ausrutscher nutzen, um eine Duftmarke zu setzen, vor allem für Portugal verringert sich der Druck massiv.

Das DFB-Team sollte in der Lage sein, der etwas einförmig angelegte Spielweise von Team Portugal ein tragfähiges Konzept entgegenzusetzen. Experten erwarten eine genau in die portugiesische Schwächen hineinstechende Taktik. Vereinfacht gesagt: wenn man Ronaldo und Nani doppelt und die Nachschub-Lieferung aus dem zentralen Mittelfeld kappt, dann zappelt Portugal hilflos am Haken. Bis auf Coentrao ist die Abwehr spielerisch zu schwach um mitzuhelfen, und anfällig bei kreativen schnellen Kombinationen über die Seiten, was exakt die deutsche Spezialität ist.

Deutschland (in Weiß/Schwarz)

1 Neuer; 20 Jerome Boateng, 14 Badstuber, 5 Hummels, 16 Kapitän Lahm; 6 Schweinsteiger, 7 Khedira; 13 Thomas Müller, 8 Özil, 10 Podolski; 23 Gomez.

Nur auf der Bank: 11 Klose, 18 Kroos und die Supertalente 21 Reus, 19 Götze, 9 Schürrle.

Das ist das übliche 4-2-3-1, mit einer fluiden Abwehr, vor allem Lahm entwickelt über links viel Druck. Schweinsteiger spielt als Achter neben dem enorm gut aufgelegten Sami Khedira, mit Podolski wie immer im Team links, und dem formlosen Müller rechts.
Einzige Überraschung: Schlingel Boateng wurde seine Nacktmodel-Eskapade nicht übel genommen - er wird den eigentlich vakanten Posten des Rechtsverteidigers wahrnehmen - bekommt es quasi zur Strafe mit Ronaldo zu tun.

Portugal: (in Rot)

12 Rui Patricio; 21 Joao Pereira, 3 Pepe, 2 Bruno Alves, 5 Fabio Coentrao; 16 Meireles, 4 Veloso, 8 Moutinho; 17 Nani, 23 Helder Postiga, Kapitän 7 Cristiano Ronaldo.

Auf der Bank: 10 Quaresma, 9 Hugo Almeida.

Das ist der Einser-Anzug, ein 4-3-3 mit einer recht statischen Abwehr, einem Dreier-Mittelfeld, in dem Veloso als Sechser im Zentrum steht, Mereiles halbrechts und Moutinho halblinks als Achter davor. Nani und Ronaldo sind die Flügelstürmer, die auch rochieren werden, und Postiga hat sich gegen Hugo Almeida als Mittelstürmer durchgesetzt.

Wichtig wird sein, wie/ob sich Nani/Rionaldo bedrängt/beengt fühlen. Das nimmt ihnen die Luft zum Atmen.

Das Spiel findet in Lviv statt, dem Stadion, das wir von Auswärtspiel des ÖFB-Teams im letzten November kennen. Schiedsrichter ist Lannoy aus Frankreich.