Erstellt am: 9. 6. 2012 - 17:34 Uhr
Das Drama der "verwaisten Werke"
"Ein großer Wurf? Das ist nicht einmal ein Würfchen, sondern eine verpasste Chance, in den Archiven verschollene Filme, Fotografie und Literatur seit der Zwischenkriegszeit des vergangenen Jahrhunderts wieder zugänglich zu machen", sagte die Abgeordnete zum EU-Parlament Eva Lichtenberger (Grüne) auf Anfrage von ORF.at. Gemeint ist der Richtlinienentwurf zur Nutzung sogenannter "verwaister Werke", der seit Monaten auf dem Weg durch die Parlamentsausschüsse ist.
Am Mittwoch hatte eine "Trilog"-Runde zu diesem Thema getagt, am Abend wurde dann überraschend ein "Kompromiss" verkündet. Laut dem neuesten Entwurf, der ORF.at vorliegt, sind erst wieder so viele Einschränkungen in den Text eingeflossen, dass es mehr als fraglich ist, ob die Richtlinie auch in der Praxis dazu führt, Verlorenes wieder zugänglich zu machen.
Was in welchen Archiven liegt
Dabei kann es sich um alle möglichen Formen von "Werken" handeln, deren Rechtelage ungeklärt ist, weil ihre Urheber und/oder die anderen, daran Beteiligten nicht mehr eruierbar sind. Schallplatten, Tonbänder und Filmsequenzen, Fotos, Zeitungsartikel, seit Jahrzehnten vergriffene Bücher usw. die jederzeit digitalisiert und republiziert werden könnten, mussten bis jetzt allerdings in den Archiven bleiben.
Diese ungeheure Fülle an Material, das in Teilen von hohem geschichtlichen Interesse ist, kann aufgrund des herrschenden Copyright-Regimes auch nach Verstreichen eines halben Jahrhunderts und mehr nicht veröffentlicht werden. Und das, obwohl fast alle diese Werke längst aus den Vermarktungszyklen gefallen sind. Das Bild- und Tonmaterial lagert in filmhistorischen und anderen akademischen Instituten, Privatarchiven, Sammlungen, Bibliotheken. Einen sehr großen Anteil davon machen die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender quer durch Europa aus.
Der überwiegende Teil ist noch analog - Filme, Magnetbänder aller möglicher Formate usw. - gespeichert, dessen Lebenszeit langsam abläuft.
Ein Drittel verwaiste Bücher
Um eine Ahnung vom Ausmaß dessen zu vermitteln, was binnen weniger Jahrzehnte aus der Öffentlichkeit verschwinden wird, gibt eine Untersuchung der British Library. Von 140 repräsentativ ausgewählten Büchern aus allen Genres, die zwischen 1870 und 2010 erschienen sind, konnte bei 43 Prozent davon nicht mehr ermittelt werden, wer derzeit noch die Rechte daran hält. Auf den Gesamtbestand gerechnet bleiben immer noch ein Drittel aller Werke übrig, die Rechtefragen offen lassen.
Damit können sie auch nicht in digitaler Form veröffentlicht werden, ohne dabei Klagen zu riskieren. Dabei handelt es sich um Bücher, bei denen die Urheberschaft noch am einfachsten zu klären ist, da die wichtigsten Daten im Werk (Verlag, Erscheinungsort und- jahr) ja selbst enthalten sind. Bei Fotos, Film und Tonaufnahmen ist die Sache in der Regel ungleich schwieriger bis unmöglich.
Die BBC wiederum hatte vor Jahren versucht, Teile ihres Film- und Audioarchivs unter einer "Creative Commons"-Lizenz zur freien, nichtkommerziellen Nutzung digitalisiert ins Netz zu stellen. Das Vorhaben scheiterte exakt an der bestehenden Rechtelage.
"Partikularinteressen"
Um dem entgegenzuwirken, dass gerade in Zeiten der umfassenden Möglichkeiten zur digitalen Veröffentlichung immer mehr kulturell und zeitgeschichtlich hochinteressante Inhalte auf Nimmerwiedersehen in öffentlichen wie privaten Archiven verschwinden müssen, wurde diese Richtlinie auf den Weg gebracht.
Wenn die Urheber nach einer "sorgfältigen Suche" nicht aufzufinden sind, sollte das betreffende Werk republiziert werden können. "Die EU-Komission hat ursprünglich sogar dafür plädiert, diese Werke dann EU-weit als 'gemeinfrei' zu deklarieren", so Lichtenberger weiter, "doch daraufhin kamen wieder nicht nachvollziehbare Partikularinteressen ins Spiel."
Bekannte Akteure
Begleitet von heftigem Lobbying der Medien- und Interhaltungsindustrie wurden zahlreiche Änderungsanträge eingereicht. Verlangt wurde zum Beispiel, Verlage und sogar die Rechteverwerter an der Veröffentlichung zu beteiligen, also private Unternehmen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie in irgendeinem Vertragsverhältnis zu den verschollenen Urhebern gestanden waren.
Federführend bei diesem Coup war wieder einmal die Abgeordenete Marielle Gallo (EVP/EPP), die vom sogenannten Telekompaket bis zu ACTA durch nachgerade extremistische Positionen gegenüber der Informationsfreiheit und dem Internet per se aufgefallen ist. Es ist im Wesentlichen derselbe Kreis von Abgeordneten, der das umstrittene Anti-Piraterieabkommen ACTA vorangetrieben hat.
Die Akteure des "ACTA-Clubs" - der natürlich nicht so heißt - in Kommission und Parlament versuchen bei jeder neuen Richtlinie, die das Internet betrifft, Passagen unterzubringen, die dazu führen sollen, dass Provider ihre Kunden überwachen und deren Internetzugänge auf Zuruf einer von den Rechtevertretern dominierten, neuen Rechtekontrollinstanz sperren müssen.
Das steht im aktuellen Text
Das flog zwar wieder hinaus, dafür kamen andere Auflagen hinein, die für Rechtsunsicherheit sorgen und in der Praxis erst wieder einer Veröffentlichung im Weg stehen werden. In Artikel zwei, Absatz eins, sind "verwaiste Werke" so definiert:
"Ein Werk oder Phonogramm wird dann als 'verwaistes Werk' betrachtet werden, wenn alle Rechteinhaber des Werks oder Phonogramms nicht identifiziert oder trotz sorgfältiger Suche nicht aufgefunden werden können." Der Knackpunkt dabei ist das Wort "alle", denn in der Praxis sieht das so aus.
Um in einer TV-Dokumentation verwaiste historische Bild- und Tonaufnahmen verwenden zu können, müssen nicht nur Herstellerfirma oder Regisseur "sorgfältig" gesucht werden, sondern auch alle anderen daran Beteiligten. Im Fall, dass weder Auftraggeber, Produzent oder Regisseur gefunden werden können, muss nach jedem einzelnen Darsteller gesucht werden. Falls auch Musik zu hören ist, zusätzlich nach dem Komponisten und den Vortragskünstlern.
Die Studie der British Library kommt für die Nachforschung zur Rechtslage auf etwa vier Stunden Arbeitszeit pro Buch. Allein für die Abklärung der Rechte bei 500.000 Büchern - "ein Tropfen im Ozean" im Vergleich zum tatsächlichen Bestand - kommen die britischen Bibliothekare auf 1.000 Personenjahre. Man plädiert daher für den Ausbau einer EU-weiten Online-Datenbank.
Ein Beispiel aus der Praxis
Hier geht es so gut wie nie um Werke vom Kaliber kommerzieller Spielfilme, sondern um Filmaufnahmen von teils bekannten, teils unbekannten Urhebern, die wiederum andere bekannte und unbekannte Rechteinhaber abgebildet haben.
Eine unbekannte Privatperson hat Anfang der 60er eine gemischte Runde abgefilmt und in eine zehnminütige Sequenz zusammengeschnitten. Ein längst verstorbener, prominenter Schauspieler und ein paar unbekannte Künstler sind darauf zu sehen, im Hintergrund spielt jemand am Piano, der aber nie ins Bild kommt.
Mehrmals fällt diese Runde bei den Liedrefrains mit ein, dann macht sich jemand über einen inzwischen in Vergessenheit geratenen Heimatdichter lustig, indem er ein Gedicht desselben mit russichem Akzent rezitiert. Eine Sequenz zeigt im Hintergrund auch einen Schwarzweißfernseher, auf dem 30 Sekunden lang Karl Valentin zu sehen ist.
Abmahnung von Karl Valentin
Für einen Dokumentarfilmer, der diese authentischen Einblicke in Alltag und Lebensumstände von - sagen wir - Attila Hörbiger - verwenden möchte, ist damit der Copyright-Albtraum komplett.
Die unbekannten Personen neben Hörbiger müssen ebenso identifiziert werden, wie die Komponisten der gesungenen Lieder. Nicht zu vergessen der Heimatdichter und Karl Valentin, dessen Enkelin kürzlich erst durch eine Abmahnaktion bei privaten Nutzern aufgefallen ist.
Die Anwälte der Nachlassverwalter wollen nach eigenen Angaben, dass für das Verwenden eines der surrealen Aphorismen des Münchener Komikers Nutzungslizenzen gelöst werden. Man könne sich eine Jahreslizenz von 250 Euro für die Nutzung eines Sinnspruchs vorstellen, hieß es seitens der Anwälte gegenüber dem Westdeutschen Rundfunk.
Für ein aus insgesamt zwölf Wörtern bestehendes Zitat Karl Valentins auf einem Blog wurde der Eigentümer von einem Anwaltsbüro abgemahnt, das Valentins Nachlass verwaltet. Gefordert wurden 890 Euro.
Wie es weiter geht
Ob der im Trilog erreichte "Kompromiss" zu den "verwaisten Werken" bei diesem Wortlaut bleibt, ist noch nicht ganz sicher. Der Richtlinienentwurf muss noch einmal durch die damit befassten Ausschüsse und dann vom Plenum abgesegnet werden.
Was die Abgeordnete Lichtenberger, die sich seit Jahren für eine entsprechende Regelung von "verwaisten Werken" einsetzt, unter "Partikularinteressen" subsummiert hat, ist folgender Sachverhalt. Die Medien- und Unterhaltungsindustrie hat sich bis jetzt noch jedem größeren Versuch entgegen gestemmt, dass audiovisuelle Inhalte aus Archiven im Netz öffentlich zugänglich zu werden, auch wenn diese Inhalte unter einem gesetzlichen Auftrag und völlig rechtskonform produziert und sogar mit öffentlichem Geld bezahlt wurden. Gemeint sind die riesigen Archive der Öffentlich-Rechtlichen von der BBC, ARD, ZDF bis hin zum ORF.