Erstellt am: 8. 6. 2012 - 20:34 Uhr
EM-Journal '12-20.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Das andere Gruppenspiel des Abends war Polen - Griechenland und ging 1:1 aus.
Die Profile der sechzehn teilnehmenden Teams:
Gruppe A
Polen
Griechenland
Russland
Tschechien
Gruppe B
Niederlande
Dänemark
Deutschland
Portugal
Gruppe C
Spanien
Italien
Kroatien
Irland
Gruppe D
England
Frankreich
Schweden
Ukraine
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.
Bei Regenwetter gibt es Indoors-Screens.
Die Ausgangslage vor dem Spiel...
Nach dem unerwarteten polnischen Patzer kommt der zweiten Begegnung noch mehr Bedeutung zu als eh schon. Ein Sieger könnte sich stark absetzen.
Russland wird mit der besten Mannschaft erwartet; nur Tormann Akinfeev ist angeschlagen, allerdings ist sein "Ersatzmann" Malafeev eh zumindest genau so gut.
Russland (Coach Advocaat, in rot, mit weiß-blauer Schärpe):
16 Malafeev; 2 Anyukov, 12 Aleksei Berezutski, 4 Ignashevich, 5 Zhirkov; 7 Denisov, 6 Shirokov, 8 Zyryanov, 17 Dzagoev, 11 Kerzhakov, 10 Kapitän Arshavin.
Das ist ein sehr offesnsivstarkes 4-3-3 mit dem kompletten Zenit St.Petersburg-Mittelfeld. Denisov ist trotz seiner Nummer 7 der defensivste, Shirokov und Zyryanov agieren davor und rollen mit, wenn ein Angriff losgeht. Den nominellen Linksaußen Arshavin zieht es gern in die Mitte, Dzagoev hält eher seine Seite. Arshavin kann sich das leisten, weil hinter ihm mit Zhirkov einer der talentiersten Linksverteidiger des Planeten spielt. Anyukov rechts ist auch ein Toller, die Innenverteidigung ist die Achillesferse.
Tschechien (Coach Michal Bilek, Team in weiß, mit leisem blauen Rand):
1 Cech; 2 Gebre Selassie, 5 Hubnik, 6 Sivok, 3 Kadlec; 10 Plasil, 19 Jiracek; 9 Rezek, 10 Kapitän Rosicky, 14 Pilar; 15 Baros.
Das ist das erwartete 4-2-3-1, bei dem viel von der Stärke und Kraft von Rosicky und Baros abhängt; beide sind überm Zenit, beide waren verletzt, von beiden macht sich Tschechien recht abhängig.
Micha Kadlec, der auch Innenverteidiger kann, darf links spielen, weil er da besser ist als sein Back-Up Limbersky, und weil es mit Hubnik und Sivok eine in sich ruhende Innenverteidiger gibt. Achtung auf Theo Gebre Selassie, den Rechtsverteidiger, toller Typ.
Von Pilar und Rezek auf den Flankenpositionen wird viel abhängen, sie werden das Offensivspiel erarbeiten müssen. Jaroslav Plasil wird neben dem Sechser Jiracek einen wahrscheinlich exquisiten Achter geben, er ist der Taktgeber im tschechischen Spiel.
Die Tschechen spielen nah an ihrer Grenze, in Wrozlaw/Breslau, haben also ein Heimspiel, und der Schiri ist ein guter Bekannter, Howard Webb, die Glatze aus London.
Die Erkenntnisse der ersten Minuten:
Die Russen spielen genau wie angekündigt, mit Shirokov halbrechts und Zyryanov halblinks diesmal, sie kommen aber während der ersten Minuten überhaupt nicht ins Rollen. Der Aufbau klappt genau gar nicht, die Außenverteidiger bleiben hinten, der Dreier-Angriff bekommt keinen Ball. Seltsam.
Team Tschechien hingegen läuft wie aufgezogen und durchaus kombinationssicher gegen Malafeevs Tor. Kadlec und Gebre Selassie sind druckvolle Außenverteidiger, Rezek ist rechts offensiv auffällig, Pilar links weniger, Rosicky sieht wirbelig aus. Im zentralen Mittelfeld Plasil spielt halbrechts offensiver vor dem defensiven Jiracek (der 19er mit den langen Zotteln).
Erst in der 13. Minute kommen die Russen erstmals ansatzweise vors gegnerische Tor, zuerst sorgt Arshavin, dann Zhirkov für Gefahr. Und zwei Minuten später dann die Führung, die dem Spielverlauf widerspricht - kontermäßiger Angriff über rechts, guter Cross, schöner Kopfball von Kerzhakov an die lange Stange, den Abpraller haut Dzagoev rein. Seltsam.
Jetzt läuft die russische Walze, in ausgefeiltem schnellen Konterspiel, Dzagoev wird in der 19. Minute wundervoll freigespielt und vergibt knapp.
Von den Tschechen ist seit der 13. Minute wiederum nichts zu sehen. Seltsam.
Und dann rollt die russische Walze dahin...
In der 24. Minute kommt wieder so ein wirbelnder Gegenangriff, den sich die Russen immer dann, wenn sie führen, abgreifen wie der Pflücker die Kirschen im vollen Baum. Arshavin past genau durch die Schnittstelle der Abwehr von links auf die rechte Seite und Shirokov ist aus seiner Mittelfeldposistion so weit in die Spitze gerückt, dass er abschließen kann: er lupft den Ball keck über Cech.
Das Spiel ist jetzt ein offener Schlagabtausch, man berennt im Minutentakt das jeweils andere Tor. Die Tschechen müssen, um noch einmal ins Match zurückzukehren, die Russen tun, weil sie es können, weil genau das, was hier abgeht, ihre beste Performance aus dem Talon zaubert.
Und Howard Webb lässt das Match in britischer Manier laufen, das hat dann Tempo und Klasse. Kershakov vergibt in der 33. Minute die Chance auf das dritte Tor.
Die tschechischen Seitenspieler haben ihr Momentum gedreht: jetzt ist Pilar auffällig und Rezek unsichtbar.
RUSSLAND
Tor: 1 Igor Akinfeev (ZSKA Moskau), 16 Vyacheslav Malafeev (Zenit St Peters-burg), 13 Anton Shunin (Dinamo Moskau).
Abwehr: 2 Aleksandr Anyukov (Zenit St Peters-burg), 21 Kirill Nababkin, 12 Aleksei Berezutski, 4 Sergei Ignashevich (ZSKA Moskau), 19 Vladimir Granat (Dinamo Moskau), 3 Roman Sharonov (Rubin Kazan), 5 Yuri Zhirkov (Anzhi Makhachkala).
Mittelfeld: 7 Igor Denisov, 6 Roman Shirokov, 8 Konstantin Zyryanov (Zenit St Petersburg), 22 Denis Glushakov (Lokomotiv Moskau), 23 Igor Semshov (Dinamo Moskau), 9 Marat Izmailov (Sporting/POR), 17 Alan Dzagoev (ZSKA Moskau), 18 Aleksandr Kokorin (Dinamo Moskau), 15 Dmitri Kombarov (Spartak Moskau).
Angriff: 10 Andrey Arshavin, 11 Aleksandr Kerzhakov (Zenit St Petersburg), 14 Roman Pavlyuchenko (Lokomotiv Moskau), 20 Pavel Pogrebnyak (Fulham/ ENG).
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TSCHECHIEN
Tor: 1 Petr Čech (Chelsea/ ENG), 16 Jan Laštůvka (Dnipropetrovsk/UKR), 23 Jaroslav Drobný (HSV/D).
Abwehr: 2 Theodor Gebre Selassie (Slovan Liberec), 5 Roman Hubnik (Hertha BSC/D), 6 Tomáš Sivok (Besiktas/TUR), 4 Marek Suchy (Spartak Moskau/ RUS), 3 Michal Kadlec (Leverkusen/D), 8 David Limberský, 12 František Rajtoral (Viktoria Plzen).
Mittelfeld: 13 Jaroslav Plašil (Bordeaux/FRA), 17 Tomáš Hübschman (Shakhtar Donetsk/UKR), 19 Petr Jiráček(Wolfsburg/ D), 10 Tomáš Rosický (Arsenal/ ENG), 9 Jan Rezek (Famagusta/CYP), 11 Milan Petržela, 18 Daniel Kolář, 14 Václav Pilař, 22 Vladimír Darida (Viktoria Plzen).
Stürmer: 15 Milan Baroš (Galatasaray/TUR), 21 David Lafata (Jablonec), 20 Tomáš Pekhart (Nürnberg/D), 7 Tomáš Necid (ZSKA Moskau/ RUS)
Das durchaus überraschende Halbzeit-Fazit
Dass sich der russische Schmäh so effizient durchsetzt, hätte ich nicht zu hoffen gewagt. Es dauerte fast eine Viertelstunde, ehe Arshavin ein Team nach vorne brachte, dann aber rollte die Walze (und die besteht im Optimalfall aus acht Leuten) und brachte das bis dahin wirklich außergewöhnlich mutig und gut aufgelegte tschechische Team in arge Verlegenheit.
Nach der Führung machen Advocaats Lieblinge jetzt das, was sie können: hinten (mit den beiden staksigen Innenverteidiger und Denisov) absichern und vorne Gegenstöße lancieren, bei denen jedem Gegner Hören und Sehen vergeht. So kam das 2:0 zustande.
Tschechien kommt nicht dazu sich effizient zu wehren: Rosicky und Baros sind körperlich nicht in der Lage mitzuhalten, und weil auch Plasil unter seinen Möglichkeiten blieb und die beiden Mittelfeld-Außen zu gesichtslos agieren, hat mittlerweile Petr Jiracek (Wolfsburg) das Spiel an sich gerissen und powert verzweifelte Angriffe in den Rasen.
Der beste Mann des Spiels ist aber Howard Webb - er lässt laufen bis an die Grenze des Machbaren und ermöglicht uns so ein temporeiches, aufregendes, herrliches Match. Und er kommt auch ohne eine einzige Karte aus.
Die zweite Halbzeit ist wie die erste und das ist gut so
In der Pause wechselt Bilek 17 Hübschmann für 9 Rezek, also einen zentralen für einen Flügelspieler. Häh? Aha, das bedeutet, dass Jiracek jetzt auf der rechten Seite offensiv übernehmen muss. An sich keine gute Idee, beim Lauf von Jiracek allerdings eine punktuell sinnhafte Maßnahme.
Sein Pendant auf der linken Seite, Pilar, erläuft einen wundervollen Lochpass von Plasil mitten durch die steife russische Abwehr und macht den Anschlusstreffer zum 1:2. Die Tschechen leben also.
Die Russen vergeben ihre Konterchancen eher leichtfertig (Kershakov, Shirokov, Zyryanov).
Dann setzt wieder der von Howard Webb zugelassene offene Schlagabtausch in hohem Tempo ein - alles ist möglich.
Ab der 60. Minute übernimmt Russland wieder deutlich das Kommando und erzeugt neben massivem Druck auch einiges an Torchancen - vor allem wenn Kershakov aus vollem Lauf daherkommt.
Die Phase auf Messers Schneide bringt die Entscheidung
In einem vogelwilden Match zwischen zwei mittlerweile auf hohem Niveau agierenden Teams sind es Mitte der 2. Halbzeit wieder die Russen, die eher agieren, während die Tschechen eher kontern.
Das hat mit dem gebrauchten Tag, den sich Plasil hat andrehen lassen zu tun, mit Rosickys Aussetzern, mit Baros' Unsichtbarkeit. Wären nicht der in der zweiten Hälfte wie aufgedrehte Pilar und natürlich Jiracek, der agressive Leader des Abends (und die guten Außenverteidiger), könnte man das Unterfangen "Rückstand-Aufholen" bereits beerdigen.
Das hat auch mit der Unbedingheit zu tun, mit dem das russische Dreier-Mittelfeld presst und presst, als wären sie im Kreißsaal.
In der 73. Minute kommt der nicht ganz fitte 14 Pavlyuchenko für den heutigen Chancentod Kershakov. Und in der 76. kommt 11 Petrzela für 19 Jiracek. Was?!? Der ist ein echter Flügel, ja, aber dafür den besten Mann runternehmen, hallo?!?
Und dann lohnt sich der russische Aufwand: in der 79. Minute rollt wieder so ein Angriff auf Cechs Tor, Pavlyuchenko legt ideal vor auf den wieder einmal halbrechts herbeistürmenden Dzagoev und gegen seinen Schuss ist Cech machtlos.
3:1
Überhaupt ist das der Spielzug dieses Matches: Aus der Zentrale in die halbrechte Position passen, wo Kershakov, Dzagoev oder Shirokov daherkommen. Dagegen haben die Tschechen kein Mittel.
Dann tanzt Pavlyuchenko halblinks in den Strafraum ziehend vier Gegner aus, schießt ins kurze Eck und obwohl Cech dran ist, hat er wieder keine Chance. 4zu1 in der 82. Minute.
In der 85. kommt 18 Kokorin für 19 Dzagoev, ein Wechsel wie im Italien-Match. Kurz drauf kommt der Alt-Austrianer 21 Lafata für Baros, der nie so recht auf dem Platz war, viel zu spät das alles.
Dann geht nix mehr. Petrzela macht noch ein klares Offsidetor, dann ist es vorbei.
Was wir von diesem russischen Sieg mitnehmen sollten
... die Erkenntnis, dass die Sbornaja sich dann, wenn sie in Führung geht, derart in Bewegung setzen kann, dass jeder vor ihnen zittern muss.
... genauso aber die Erkenntnis, dass ein 4:1 noch keinen neuen Favoriten macht. Denn in dem Moment, wo sich die frühe Führung nicht einstellt, kommt Advocaats Truppe in Probleme. Und das wird, über kurz oder lang, schon in der Gruppenphase, auch einmal passieren.
Tschechien steht dort, wo ich sie erwartet habe: im Niemandsland des Rosicky/Baros-Problems. Wer sich auf seine alten Kamellen verlässt, darf sonst keine Fehler machen. Die hat Coach Bilek aber durchaus begangen: seine Wahl der Außenspieler (Rezek), die Auswechslung von Jiracek, mit der er implizit auch den Willen zur Spielkontrolle aufgab... das ist zuviel.
Über allem thront aber die Erkenntnis, dass es einen selbstbewussten Schiedsrichter braucht, um ein Spiel auf hohem Level und in tollem Tempo zu ermöglichen. Howard Webb kam, und da sollte sich der spanische Kollege was abschauen, auch deshalb ohne seine mitgebrachten Karten aus, weil er nicht jedem Rempler und jedes Gefalle abpfiff, sondern das Spiel durchlaufen ließ; im Wissen, dass sich solche Kleinigkeiten eh von selber regulieren.