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Roland Gratzer

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8. 6. 2012 - 12:14

Totalniy Futbol

So heißt eine Essay-Sammlung über die acht Austragungsorte der Fußball-EM. Eine Reise durch Geschichte, Denkweisen und Kondom-Diskurse.

Buchcover

Suhrkamp Verlag

"Totalniy Futbol" ist im Suhrkamp Verlag in der Übersetzung von Lisa Palmes erschienen

1968 gab es in der polnischen Armee antisemitische Ausmusterungen. Viele jüdische Offiziere mussten die Armee verlassen und gingen nach Israel. Das Know-how dieser Militärs war ein Quantensprung für die israelischen und ein fast nicht kompensierbarer Aderlass für die polnischen Streitkräfte.

Das ist nur eine der mir unbekannten historischen Splitter-Informationen, die das - vom ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan herausgegebene - Buch "Totalniy Futbol" zu einem Werk auch für solche Menschen machen, die Fußball nicht nur als 90minütiges Spiel mit viel Gossip rundherum sehen. Acht Autoren beschreiben in acht höchst unterschiedlichen Essays die acht Austragungsorte der jetzt startenden Fußball-EM. Es sind Geschichten über alte Heroen, finanzstarke Oligarchen, modernste Stadien in armen Vierteln und der alte Glanz der sowjetischen Meisterschaft. Manche Texte sind literarische Leckerbissen, andere unverdauliche Kost. Aber eines haben sie alle gemeinsam: So hat man das sicher noch nicht gelesen.

Der Fußball trägt den Sieg über die Politik davon, nur die Stadien vereinen die Ukrainer: In den Stadien werden sie die Präsidenten auspfeifen und die Nationalhymne singen, in den Stadien sind ihnen Sprache und Regionalinteressen egal, in den Stadien versuchen sie, sich wieder für die eigene Mannschaft zu begeistern, sie gemeinsam für ihr schlechtes Spiel zu kritisieren und sie gemeinsam anzufeuern. (Serhij Zhandan)

Serhij Zhadan

Suhrkamp Verlag

Herausgeber, Initiator und Mitautor ist der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhandan. Mehr über ihn gibt es auf oe1.orf.at nachzulesen.

Die acht AutorInnen:

Pawel Huelle (Danzig)
Marek Bieńczyk (Warschau)
Natasza Goerke (Posen)
Piotr Siemion (Breslau)
Natalka Snjadanko (Lemberg)
Juri Andruchowytsch (Kiew)
Oleksandr Uschkalow (Charkiw)
Serhij Zhadan (Donezk)

Unterschiedlich ist nicht nur das Fußballwissen der AutorInnen, sondern auch ihr literarischer Zugang. Auf einen Dialog mit einem pensionierten Arbeiter und ambitionierten Trinker in einem schäbigen Lokal folgen generelle Beschreibungen eines ganzen Landes:

Die Polen sind nicht schlecht im Küssen, das kann ich selbst bezeugen. Und auch mit Talenten sind sie reich gesegnet. Außerdem kann niemand auf der Welt so herrlich im Schwermut versinken wie wir, die lustigen Polen – die Paradoxie des Clowns. Die Schwermut ist einer unserer Bodenschätze, von denen wir im Übermaß besitzen, und wenn die Schwermut Erdöl wäre, dann wären wir reich wie die Arabischen Emirate. (Natasza Goerke)

Sie ist es auch, dass das absurde Verhältnis der polnischen Mehrheit zum Thema Kondom beschreibt. Zwar wissen die Veranstalter mittlerweile, dass Sex während der EM eine große Rolle spielen wird, wie diese Menschen mit Kondomen versorgt werden sollen, darüber wird nicht gesprochen. Weil in Polen generell wenig über Safer Sex gesprochen wird. Interessante Zusatzinfo: Der Erfinder des Kondoms war ein polnischer Chemiker im 19. Jahrhundert. Interessante Zusatzzusatzinfo: Sein Name war Julius Fromm.

Fußball Stadion

Kirill Golovchenko

Zwischen den Texten gibt es Fotos von Kirill Golovchenko, der durch beide Veranstalter-Länder gereist ist. Die Motive sind zwar höchst erwartbar, aber trotzdem schön.

Der Titel bezieht sich auf die Philosophie des traditionsreichen ukrainischen Vereins Dynamo Kiew in den Siebzigern. Ähnlich wie der "Totaalvoetbal" in den Niederlanden ging es hier um blitzschnelles Umschalten von Defensive auf Offensive und die Forderung an jeden Spieler, alles zu können. Das Buch ist voll von solchen nostalgischen Erinnerungen. Denn das waren die alten Zeiten. Heute gewinnen die Mannschaften, die den reichsten Oligarchen hinter sich haben. Dieser Paradigmenwechsel wird im Buch mit folgendem Satz beschrieben: "Einen Schiedsrichter kann man nicht nur kaufen, sondern auch abwerben". Da hat man als Fan Glück, sowieso immer schon Fan von Schachtar Donezk gewesen zu sein. Denn wie Zhandan schreibt:

Als Fußballfan hast du dich Fortuna und dem Zufall verschrieben, von dir selbst hängt im Grunde kaum etwas ab. Als lauterer Mensch musst du Fan deiner Heimatmannschaft sein. Glück für dich, wenn du zum Beispiel in Barcelona geboren und aufgewachsen bist. Andernfalls wirst du dein ganzes Fanleben lang nicht so sehr die Erfolge deiner geliebten Mannschaft bejubeln, als ihr wenig beneidenswertes Karma beweinen.

Wie in vielen anderen Fußballbüchern auch, versuchen die Autoren die Bereiche Politik, Gesellschaft, Geschichte und eben den Fußball selbst als Teile einer universellen Menschheitserzählung zusammen zu bringen. Das gelingt zwar auch in "Totalniy Futbol" nicht immer, aber oft genug.