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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

6. 6. 2012 - 14:40

EM-Journal '12-16.

Der Countdown zur Fußball-EM. Mit einer Einschätzung aller Mannschaften. Heute in Teil 15: das neue Deutschland.

Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.

Heute: ein genauerer Blick auf eines der sechzehn teilnehmenden Teams - Deutschland.

Bisher erschienen:
1) England
2) Tschechien
3) Portugal
4) Irland
5) Dänemark
6) Schweden
7) Kroatien
8) Polen
9) Italien
10) Ukraine
11) Russland
12) Niederlande
13) Frankreich
14) Griechenland

Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.

Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12. Upcoming, im August: ein Journal zu den London-Olympics.

FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.

Also: gibt es irgendetwas, was die geneigte österreichische Öffentlichkeit nicht weiß übers deutsche Nationalteam? Nie zuvor waren auch sonst wenig affine Menschen so gut über die DFB-Truppe informiert. Weil so viele Österreicher recht gut in der dortigen Bundesliga spielen; weil die deutschen Medien so umfassend auf Österreich ausstrahlen; und weil der DFB eine extrem professionelle Image-Arbeit betreibt.

Insofern kann ich auch nichts übers deutsche Team erzählen, was noch keiner weiß. Die Qualitäten sind deutlich sichtbar, und auch die Problemzonen, die bei oberflächlicher Betrachtung nicht so deutlich zu erkennen sind (und deshalb bei weiter entfernten Teams wie den Holländern oder Franzosen bestenfalls mit Erstaunen zur Kenntnis genommen werden) hat ein jeder erspäht - weil sie spätestens nach der unglücklichen Niederlage dahoam, die Bayern München schlagartig menschlich und angreifbar gemacht hat, ebenso in aller Munde sind. Auch das ist Imagearbeit, wenn auch eher unbeachsichtigte.

Apropos: der entscheidende Faktor für den (bewusst in Szene gesetzten) Imagewandel, den das DFB-Team in den letzten sechs Jahren durchlaufen hat, ist die dahinterstehende Philosophie. Das trug nicht nur sportliche Früchte (denn plötzlich spielt das vormalige Panzer-Fußballteam mit den schönsten Ball der Welt), sondern hat auch Auswirkungen für die Sicht der Welt auf die Deutschen. Ich kenne in meiner engeren Umgebung mehrere Menschen, die - nach einigem ein paar Turniere anhaltendem Zögern - diesmal ernsthaft den Deutschen die Daumen drücken.

Den Deutschen, mitten in Österreich. Wahnsinn, was?

Aber: sie tun das nicht als pures Opfer einer cleveren Campaign, sie tun das inhaltlich zurecht.
Zwanziger/Niersbach und Klinsmann/Löw/Bierhoff haben den alten Muff, die schnarchige Panzer-Mentalität und die altbackene Stinkstiefelei aus dem Team und seinem Umfeld gekehrt. Ein Klima des (anspornenden) Terrors, wie es unter den heutigen TV-Experten Kahn oder Effenberg herrschte - heute undenkbar. In dieser Hinsicht spielt der DFB auch gegen die alten Medienpartnerschaften der Ex-Stinkstiefel-Spieler, gegen den Inkontinenz-Machismo der Waldis, gegen die Volksaufklärungs-Spaßfront der Pochers und gegen den nationalistischen Boulevard. Und das ist ein hartes Match.

Im Ausland, wo man die öffentlichen Ausfälle der Alt-Patrioten nicht mitbekommt, verfängt diese Strategie mittlerweile. Das Sommermärchen daheim hatte man noch skeptisch mitverfolgt, bei der Heim-Euro 08 definierte noch das in die Munchsche Groteske verzerrte Bild von Ballack beim erfolgreichen Torschuss gegen Österreich den deutschen Auftritt. In Südafrika war das fast übertrieben jugendliche deutsche Team schon der geheime Darling - und jetzt geht sich's aus: man kann das deutsche Team nicht nur wegen der seit Jahren offensiv-positiven Spielweise, der neu etablierten High-Class-Spielkultur mögen, sondern auch wegen seines Auftretens.

Österreich steht diesmal wohl hinter Deutschland

Damit meine ich nicht, dass Lahm, Klose und Löw Auschwitz besuchen. Das ist auch wichtig. Und dass Klose und Podolski ihre polnischen Roots betonen. Und das Özil selbstverständlich zu Deutschland gehört, auch wenn der Rostocker Pastor die einzige Hinterlassenschaft des geschassten Hannoveraners durch überflüssiges Zurückrudern beschädigt hat.

Jogi Löws Top 23:

Tor: 1 Manuel Neuer (Bayern München), 12 Tim Wiese (Werder Bremen), 22 Ron Robert Zieler (Hannover).

Abwehr: 4 Benedikt Höwedes (Schalke), 20 Jérôme Boateng, 14 Holger Badstuber, 16 Philipp Lahm (Bayern München), 17 Per Mertesacker (Arsenal/ ENG), 5 Mats Hummels, 3 Marcel Schmelzer (Borussia Dortmund).

Mittelfeld: 6 Sami Khedira, 8 Mesut Özil (Real Madrid/SPA), 7 Bastian Schweinsteiger, 18 Toni Kroos, 13 Thomas Müller (Bayern München), 2 Ilkay Gundogan, 19 Mario Götze (Borussia Dortmund), 15 Lars Bender, 9 Andre Schürrle (Leverkusen), 21 Marco Reus (Mönchen-gladbach), 10 Lukas Podolski (FC Köln -> Arsenal/ENG),

Stürmer: 23 Mario Gomez (Bayern München), 11 Miroslav Klose (Lazio/ITA).

Stand-By: Marc-André ter Stegen (Mönchen-gladbach); Sven Bender (Borussia Dortmund), Julian Draxler (Schalke), Cacau (Stuttgart),

Die Performance geht weit über die Image-Korrektur hinaus, was den hässlichen Deutschen, der in Hollywood nur Nazis spielen kann, betrifft. Die jungen deutschen Teamspieler sind tatsächlich lebende Beispiele für funktionierende Migration, für ein neues unarrogantes Bewusstsein, was Arbeitsethik betrifft, und vor allem unendlich wichtige Botschafter einer nötigen neuen Genderpolitik.

Jogis Jungs sind das, was man früher spöttisch Metrosexuelle genannt hat, ganz ohne Definition und Einordnungs-Kistl, aus sich selbst heraus. Sie zerbröseln alte Männerbilder, die gerade im Fußball vorhanden waren; sie zersetzen das jahrzehntelang prägende Image von gefühlsarmen Panzer-Fußballer, der überall seinen Mann stehen muss.

Die dabei eingesetzten begleitenden Mittel (siehe Klinsmanns Hemd, siehe Löws Merino-Pulli) sind genau überlegt, da unterstützt die Form und das entsprechende Marketing die inhaltlichen Werte.

So gesehen wäre Deutschland ein echter Europameister.

Was kann sie - rein sportlich - daran hindern?

Spanien.

Ein schlechter Tag gegen ein Team wie Frankreich oder Russland.

Wenn was im Umstieg vom 4-2-3-1 auf das Zweitsystem, das 4-1-4-1, nicht klappt.

Das Außenverteidiger-Problem. Wo spielt Lahm jetzt, rechts oder links? Wer steht im ersten Match Ronaldo gegenüber?

Der eigene Kopf. Das Bayern-Trauma. Aussetzer von Boateng. Das Bein von Schweinsteiger. Gedankliche Unsicherheiten von Mertesacker oder Götze. Wenn Gomez und Klose gemeinsam ausfallen.

Nicht viel also.

Wer fehlt?

Aufgrund der hohen Klasse-Dichte im Mittelfeld haben es Simon Rolfes von Leverkusen, Christian Träsch von Wolfsburg, Kevin Großkreutz und Sebastian Kehl aus Dortmund, Lewis Holtby von Schalke, Patrick Herrmann von Gladbach, Sebastian Rudy von Hoffenheim und Marko Marin von Werder nicht geschafft.

Dazu kommen einige ausprobierte Außenverteidiger-Kandidaten: Dennis Aogo und Heiko Westermann (HSV), Sascha Riether (Köln), Gonzalo Castro (Leverkusen), Christian Pander (Hannover), Clemens Fritz (Werder), Tony Jantschke (Gladbach) oder Marcel Schäfer (Wolfsburg). Gute Leute allesamt, wenn auch teilweise außer Form; und: das Problem hätten sie auch nicht gelöst.

Verletzt sind/waren Serdar Tasci (Stuttgart) und die Oldies Christoph Metzelder, Timo Hildebrand oder Thomas Hitzlsperger.

Vom 2010-WM-Team fehlen noch Arne Friedrich (jetzt Chicago Fire), Piotr Trochowski (jetzt Sevilla), Stefan Kießling (Leverkusen) und Marcell Jansen (HSV). Tormann René Adler (Leverkusen) ist seit seinem Ausfall damals nicht mehr auf die Beine gekommen.

Als Torleute wären noch Bernd Leno (Leverkusen) und Roman Weidenfeller (BVB) möglich gewesen, letzterer schoss sich aufgrund homophober Äußerungen aber selber ab.

Weiters genannte mögliche Defensiv-Alternativen: Andreas Beck (Hoffenheim), Philipp Wollscheid (Nürnberg), Manuel Friedrich (Leverkusen), Christian Schulz (Werder).
Weiters genannte mögliche Offensiv-Alternativen: Mike Hanke (Gladbach), Patrick Helmes (Wolfsburg).

Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche, mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail. Ich habe sicher den einen oder anderen Sidney Sam übersehen.

An der schmal besetzten Legionärsfront wären noch Robert Huth (Stoke), Fabian Ernst und Roberto Hilbert von Besiktas, Talent Alexander Merkel (Milan) und natürlich Kevin Kuranyi (Dinamo Moskau) zu nennen.

Michael Ballack ist zurückgetreten.

Was steht zu erwarten?

Das Finale.