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Elisabeth Gollackner

Subjektivitäten, Identitäten und andere feine Unterschiede.

7. 6. 2012 - 14:46

Den Himmel könnt ihr euch schenken

Autor James Frey hat die Bibel zu Ende geschrieben. "Das letzte Testament der Heiligen Schrift" ist eine dreckige Mischung aus Eskapismus, Carpe Diem und Gruppensex.

Weg, einfach abhauen, Job kündigen, Handy abschalten und das tun, wofür wir geboren wurden: essen, tanzen, vögeln, schlafen. Je größer die Krise – ganz egal, ob es die persönliche und/oder die globale ist - desto besser lässt es sich feiern. Niemals wird so intensiv gelebt wie kurz vorm Ende. Und: „Das Ende ist nah. Und es ist unvermeidbar.“ Sagt Ben.

Ben ist der Messias, und er ist – auch ich gebe mich geschlagen – unwiderstehlich. Zwei Tausend Jahre haben wir gewartet und gebetet, und jetzt ist Jesus Christus zurückgekehrt. In Form eines narbenübersäten, dünnen Mannes, mit schwarzen Augen und schwarzen langen Haaren, mitten im Dreck von New York.

Ein Skalpell mit Bluttropfen

Haffmans & Tolkemit

„Vergiss die Religionen“, sagt Ben, „Diesen Gott, an den alle glauben, gibt es überhaupt nicht. Nur das Ende. Und alles, was wir auf Erden haben, sind die anderen Menschen. Und alles, was uns mit ihnen verbindet, ist Liebe. Aber nicht so eine Dummbatz-Pop-Song-Liebe. Liebe heißt, sich umeinander zu kümmern, zu ficken, und jeden so leben zu lassen, wie man selbst leben will."

Sprachrohr der Unterschicht

Der Autor James Frey, kontroverses Sprachrohr amerikanischer Problem-Schichten, hat die Bibel fortgesetzt. „Das letzte Testament der Heiligen Schrift“ nennt er es, und es besteht aus den Zeugenaussagen von 13 Jüngerinnen und Jüngern. Cracknutten, religiöse Fanatiker, Cops, Ärztinnen – alle wurden sie bekehrt durch die Begegnung mit Ben. Mit den meisten von ihnen hatte er Sex (wie könnte es anders sein). Einige hat er nur angesehen, das hat gereicht. Gleich zu Beginn des Buchs dankt der Autor allen 13 Zeugen überschwänglich, dass sie die Erfahrungen mit ihm geteilt und so erst dieses Buch ermöglicht hätten. Wiedermal spielt James Frey mit dem Authentizitätsanspruch seiner Geschichte. Die Schelte der vergangenen Jahre scheint ihn nicht davon abzuhalten.

Gut oder „echt gut“?

Der Durchbruch gelang James Frey 2003 mit der autobiografischen Geschichte "A Million Little Pieces" (und dessen Nachfolgeroman „Myfriend Leonard“), die sich um seine eigene Drogen- und Alkoholsucht drehten. Der Verlag war stolz auf die literarische Neuentdeckung, und Promis wie Talkshow-Queen Oprah Winfrey lobten den Ex-Junkie Frey in den Himmel. Als nach und nach rauskam, dass wenig bis gar nichts in diesem Roman der Wahrheit entsprach, flogen die Fetzen: Oprah tobte öffentlich vor Wut, und alle Neuauflagen der Romane wurden mit einer Entschuldigung des Autors versehen.

James Frey und Oprah Winfrey

e.gollackner

Hochgejubelt, ausgeschimpft, und dann gleich noch mal ins Studio geladen: Oprah entschuldigt sich öffentlich bei James Frey für ihr "mangelndes Mitgefühl".

James Frey ist ein schlauer Kerl, er kennt die Welt und deren Wunsch nach Authentizität. Bereits 1996 versuchte er seinen späteren Bestsellerroman, damals noch als fiktive Geschichte, zu verkaufen. Erfolglos. Erst als es echte Erfahrungen eines echten Drogensüchtigen waren, wollten die Menschen seine Geschichte lesen. Es verwundert also nicht, dass er auch bei seinem neuesten Roman wieder zwischen Fiktion und Wirklichkeit balanciert.

James Frey: Das letzte Testament der heiligen Schrift. Deutsch von Alexa Hennig von Lange, Charles Lewinsky, Clemens J. Setz, Gerd Haffmans, Harry Rowohlt, Juli Zeh, Katja Scholtz, Klaus Modick, Kristof Magnusson, Steffen Jacobs, Sven Böttcher, Tina Uebel, Zoë Jenny. Haffmans & Tolkemitt 2012

White Trash Messias

Im „Letzten Testament“ stürzt sich Frey in einen mitreißenden Sturm aus Menschenliebe und Weltenhass. Seine Jesus-Figur Ben positioniert er als ruhende Mauer der Zuneigung, als resigniert-erleuchteten White-Trash-Hippie. Eine dreckige Mischung aus Eskapismus, Carpe Diem, Gruppensex und Kulturpessimismus, und dazwischen wird gezittert und Schleim gekotzt, weil es die epileptischen Anfälle sind, die Ben dazu befähigen, mit Gott zu sprechen. Die derben und hingerotzten Zeilen des Buchs porträtieren Menschen, die im Abseits leben, und ihre irrsinnige, tobende Sehnsucht nach Liebe. Alles wird gut. Auch wenn danach alles vorbei sein wird.

Harry Rowohlt, der Tunnelpenner

Bei Erscheinen der englischen Originalausgabe 2011 überboten sich die Kritiker in Superlativen. Und als es um die deutsche Übersetzung des Buchs ging, wurde ebenfalls geklotzt und nicht gekleckert: Jedes Kapitel der deutschen Ausgabe ist von jemand anderem übersetzt worden, ein prominenter Name reiht sich an den nächsten. Harry Rowohlt, Julie Zeh, Clemens J. Setz, Alexa Henning von Lange und viele mehr geben den Tunnelpennern, Huren und dicken Außenseiterinnen ihre Sprache. Damit wird das Experiment, einen alten Mythos mit Aktualität zu füllen, um eine spannende sprachliche Komponente erweitert. Er ist zurück. Ein Glück.