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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

12. 6. 2012 - 11:28

Alles dreht sich

Mark Z. Danielewskis erfrischender Anti-Realismus in seinem 360-Grad-Buch "Only Revolutions" ist eine Hymne auf die Liebe.

"I think last night, you were driving circles around me"
(Kristin Hersh: "Your Ghost")

Überall seien Geister, versichert er mir. Der Raum sei nicht leer, ganz im Gegenteil. Die Stühle, auf die wir vom Podium herab blicken, seien besetzt, man dränge sich schon an den Eingängen. Es werde noch unruhig gehustet, man warte gespannt auf unser Gespräch. Es ist die surrealste Interviewsituation meines Lebens: Ein menschenleerer Saal im Kunsthistorischem Museum, ein beleuchtetes Podium, einer der spannendsten Autoren der Gegenwart und ich sitzen uns gegenüber und beginnen wie bei einer Lesung ohne (sichtbare) Zuschauer über sein Buch zu plaudern: Mark Z. Danielewski.

Only Revolutions Ausschnitt

Klett-Cotta

Die Demokratie von Zweien

Only Revolutions Cover

Klett-Cotta

Mark Z. Danielewski: "Only Revolutions" ist 2012 in deutscher Übersetzung von Gerhard Falkner und Nora Matocza bei Klett-Cotta erschienen.

Am Anfang steht eine gewisse Orientierungslosigkeit. "Only Revolutions" sieht nicht aus, wie Bücher normalerweise aussehen. Es besteht aus exakt 360 Seiten, jede enthält 360 Wörter. Das Buch hat zwei Titelseiten und zwei erste bzw. letzte Seiten. Jede Leserichtung beinhaltet einen eigenen Erzählstrang, und als wäre dies noch nicht kompliziert genug, enthält jede Seite zwei Kolumnen mit historischen Daten, von 1863 - 2063. Jede Seite enthält also vier Textblöcke, zwei davon auf dem Kopf stehend. Man muss das Buch also gelegentlich um 180 Grad drehen, um es lesen zu können. Der Verlag empfiehlt ein regelmäßiges Wenden nach acht Seiten.

"Die Demokratie von Zweien" nennt Mark Z. Danielewski seine 360 Grad-Erzählung. Und ja, es sind zwei Menschen, deren Geschichte hier geschildert wird: Sam und Hailey, ein junges Teenager-Liebespaar, mitten auf einem Road-Trip durch die USA, ständig auf der Flucht vor den Autoritäten, vor dem Gesetz und den Eltern.

Die Sprache ist gekünstelt, erdrückend, halbiert: von der einen Seite liest man Sams Geschichte, von der anderen Haileys. Jung und durchgeknallt reisen die beiden ziellos durch die Staaten, immer im Hintergrund ein Zeitparadigma, das Leben zweier Jugendlicher mitten im großen Rad der Geschichte. "When Wall Street sneezes, the rest of the world catches pneumonia", heißt es in einer berühmten Zeile. Nicht ganz zufällig niest Hailey genau zu jenem Zeitpunkt, als in New York die Dämme der Finanzkrise brechen.

Only Revolutions Ausschnitt

Klett-Cotta

Sams Sichtweise, S. 78/283

Sam und Haileys zutiefst surreale und teils verworrene Geschichte sprengt jede Prosaform und ist in ihrem Kern ein Davonlaufen vor der Zeit: Die historischen Hintergründe, von den Zwischenstopps in der Hippie-Ära bis zu den frühen Neunzigern und dem Besuch eines Grunge-Konzerts, ist der kulturhistorische Verschleiß der Zeit, die Wikipedia-Relikte in Form einer Glosse. Denn die beiden Teenies, die bleiben im Gegenzug immer konstante 16 Jahre alt. Ausgerechnet das Alter, mit dem man in den USA den Führerschein machen kann und in dem man die sexuelle Mündigkeit erreicht. Die Historie, die machen bereits die anderen: Wenn man jung ist, gilt bestenfalls noch Sex und Raserei. Das ist eine Hymne auf die Liebe.

Only Revolutions Ausschnitt

Klett-Cotta

Haileys Sichtweise, S. 283/78

Das Medien-Dispositiv

Wer diese Rezension nun online auf seinem Smart-Phone liest und dieses nun gedreht hat, um Haileys Ausschnitt zu lesen (mit dem PC-Monitor ist es rein theoretisch auch möglich), ist mitten drin in der Diskussion um die Werke des US-Amerikaners Mark Z. Danielewski. In seiner Heimat wird der gute Mann gelegentlich geprügelt für seine Erzählexperimente: Sie seien unlesbar, überintellektuell und neunmalklug. Sein Erstlingswerk "House of Leaves" gilt unter Kritikern als schwer rezensierbar, unter Fans ist das Werk mit seinen mehreren parallel verlaufenden Erzählsträngen und einem beispiellosen Overkill an typographischen Besonderheiten, von winzigen Fußnoten bis zu Textkästchen in Spiegelschrift, ein Kultbuch.

Mark Z. Danielewski

Klett-Cotta

Mark Z. Danielewski

Auch "Only Revolutions" setzt hier an. Angefangen habe Danielewski vor sechs Jahren mit Bleistift und Papier, geendet habe er mit einem Design-Programm. Und in diesem Buch scheint kein Buchstabe zufällig, kein Zeichen umsonst, selbst die Umschlagsfarbe orientiert sich an der Augenfarbe der beiden Protagonisten. Diese Dichtung will bedeutsam sein, sie ist vergleichbar mit oft als unlesbar bezeichneten Werken wie "Finnigans Wake" von James Joyce und klickt alles an, was pophistorisch von Bedeutung ist, von Romeo und Julia, Bonny und Clyde bis Kerouacs "On the Road". Hier wird amerikanische Geschichte geatmet, im Original noch deutlicher, da heißt es in der Beschreibung der beiden immer "US".

Danielewskis neueste Projekte: eine Ghost-Story mit Überlänge namens "The Fifty-Year Sword" (Okt. 2012) und die 27-bändige Buchreihe "The Familiar" über ein kleines Mädchen, das ein kleines Kätzchen findet (2014)

Danielewski ist einer der wesentlichsten Vertreter einer vor allem angloamerikanischen Strömung, die mit dem Medien-Dispositiv "Buch" spielt. Bei diesem Begriff handelt es sich um die Regeln, die wir einzuhalten haben, wenn wir Medien konsumieren: ein Buch liest man von vorne nach hinten, man benötigt eine externe Lichtquelle, man liest es still und nicht laut, wie noch vor einigen Jahrhunderten, und man muss sich dabei konzentrieren. Besonders AutorInnen wie Danielewski und das Ehepaar Jonathan Safran Foer und Nicole Krauss sind bekannt für ihre Erzählexperimente, die diese Regeln zwar nicht außer Kraft setzen, aber sie hinterfragen: Man denke nur an Foers "Tree of Codes", für das der Autor Wörter aus einem fremden Buch ausschneidet, um mit den darunterliegenden Wörtern des Buches eine neue Geschichte zu konstruieren. Solche neuen Textformen werden durch digitale Medien noch weiter begünstigt, für das Buch sind sie aber in der Tat revolutionär.

Weitere Leseempfehlungen:

Spannend wird es, wenn Danielewski im Interview erklärt, dass er diese Geschichte nur auf diese Weise erzählen kann. Das mag eine Marketing-Strategie sein, aber nehmen wir es ihm einmal ab: Wenn AutorInnen Geschichten nicht mehr nur auf konventionelle Weise erzählen können, sondern sich solch formaler Konstrukte bedienen müssen, dann gelangen wir zu neuen Lese-Erlebnissen. Wir könnten einen ähnlichen Umbruch erleben, wie im 18. Jahrhundert, als lautes Lesen von Texten durch stilles ersetzt wurde. Eine Medienrevolution vergleichbar mit einer Karussel-Fahrt: für uns LeserInnen erfrischender Schwindel und Übelkeit zugleich.