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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

5. 6. 2012 - 16:04

EM-Journal '12-15.

Der Countdown zur Fußball-EM. Mit einer Einschätzung aller Mannschaften. Heute in Teil 14: Griechenland, der doppelte Underdog.

Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.

Heute: ein genauerer Blick auf eines der sechzehn teilnehmenden Teams - Griechenland.

Bisher erschienen:
1) England
2) Tschechien
3) Portugal
4) Irland
5) Dänemark
6) Schweden
7) Kroatien
8) Polen
9) Italien
10) Ukraine
11) Russland
12) Niederlande
13) Frankreich

Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journals '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.

Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12 . Upcoming, im August: ein Journal zu den London-Olympics.

FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.

Vorbemerkung: Die dummen und angesichts der Mit-/Hauptschuld der westlichen Industrienationen/Bankengeflechte und ihrer Mittäterschaft an der griechischen Krise (und in Folge der Euro-Krise) dreisten bis obszönen Witze über die faulen und betrügerischen Griechen jetzt bitte hier abladen.

Der Boulevard-Häme und auch den einer blind-blöden Infotainment-Ethik folgenden Kommentatoren-Witzchen in den scheinbaren Qualitäts-Medien wird das griechische Team aber während dieser Euro nicht entkommen.

Leben wir also damit.
Die Griechen sind, weil sportlich ein Leichtgewicht, eben der doppelte Underdog dieser Euro.

Ich will anhand der griechischen Nationalmannschaft aber etwas anderes ausführen. Und das hat nichts mit Gesellschaftspolitik, dafür aber umso mehr mit der Entwicklung des modernen Fußballs in den letzten zehn Jahren zu tun.

Das griechische Team ist nämlich ein anschauliches Beispiel dafür, dass ein System allein nichts bedeutet, sondern erst durch die dahinterstehende Philosophie definiert wird.

Denn: sowohl die stockkonservative Rehhagel-Truppe von vor acht Jahren als auch das aktuelle Team von Fernando Santos spiel/t/en (nicht durchgehend, aber oft) ein 4-3-3. Und dennoch liegen da nautische Seenmeilen dazwischen.

Der Portugiese Santos legt sein System portugiesisch an: Viererabwehr mit zumindest einem recht offensiven Außenspieler. Davor ein Mittelfeld mit einem Sechser und zwei Achtern, dafür ein echter Dreiersturm mit zwei hochoffensiven Flügelspielern und einem Center.

Das ist im Mittelfeld eine exakte Kopie von Portugals System und Philosophie, mit Karagounis und Katsouranis als Meireles und Moutinho. Bei den Portugiesen ist es mit Coentrao eher der linke Verteidiger, der nach vorne stößt, wohingegen bei den Griechen Torosidis rechts diesen Job macht. Und Salpingidis und Samaras, die den zentralen Gekas unterstützen, sind keine echten Außenspieler wie Ronaldo und Nani, es zieht sie eher in die Mitte.

Die Unterschiede zu Rehhagels 4-3-3 sind evident: da waren Karagounis und Katsouranis teilweise als Offensivkräfte aufgeboten, als "Halbstürmer" hinter/neben der echten einzigen Konterspitze. Da spielte eine Abwehr gegen den Mann, da ging der Sechser oft als Libero zurück und machte so eine Fünfer-Abwehr auf. In Wahrheit war Rehhagels System also oft ein 5-2-2-1.

Fernando Santos und die exakte Portugal-Replik

So weit, so unterschiedlich.

Fernando Santos 23er-Kader:

Tor: 1 Konstantinos 'Kostas' Chalkias (PAOK Saloniki), 12 Alexandros Tzorvas (Palermo/ITA), 13 Michalis Sifakis (Aris Saloniki).

Abwehr: 15 Vasilios 'Vasilis' Torosidis, 8 Avraam Papadopoulos,
20 Jose Holebas (Olympiakos Piräus), 19 Sokratis Papastathopoulos (Werder Bremen/DEU), 5 Kyriakos Papadopoulos (Schalke/DEU), 4 Stelios Malezas (PAOK Saloniki), 3 George/Yiorgos Tzavellas (Monaco/FRA), .

Mittelfeld: 6 Grigoris Makos (AEK Athen), 2 Ioannis 'Giannis' Maniatis (Olympiakos Piräus), 10 Georgios Karagounis, 21 Konstantinos 'Kostas' Katsouranis, 18 Sotiris Ninis (Panathinaikos), 16 Giorgos Fotakis (PAOK Saloniki), 22 Konstantinos 'Kostas' Fortounis (Kaiserslautern/DEU), 23 Ioannis Fetfatzidis (Olympiakos Piräus).

Angriff: 14 Dimitrios Salpingidis (PAOK Saloniki), 7 Giorgos Samaras (Celtic/SCO), 11 Konstantinos 'Kostas' Mitroglou (Olympiakos Piräus), 9 Nikolaos 'Nikos' Liberopoulos/Lymperopoulos (AEK Athen), 17 Theofanis Gekas (Samsunspor/TUR).

Stand-By: Alexandros Tziolis (Monaco/FRA), Panagiotis Giorgios Kone (Bologna/ITA).

Die Frage, ob Griechenland 2012 auch nur ansatzweise soweit kommen wird wie Griechenland 2004, stellt sich allerdings nicht. Denn nur mit einem absurd anmutenden Beton-System war damals Staat zu machen. In einer Phase, in der man die alten Zöpfe (das flache 4-4-2, die Manndeckung etc) abschnitt, in der sich die modernen Systeme (wie das 4-2-3-1 oder das 4-1-4-1) erst entwickelten, waren sie noch verwundbarer als heute, wo alles bereits ausdefiniert vor uns liegt.

Insofern wäre es auch völlig sinnlos mit dem Rehhagel-Steinzeit-Schmäh daherzukommen. Wie schief ein Engagement einer solchen Mumie geht, haben ein paar Torfköpfe in Berlin jüngst schlagend vorgezeigt.

Andererseits: In dieser modernen Fußball-Welt hat ein Team wie Griechenland auch keine echte Chance mehr auf eine Überraschung. Weil es nämlich (auch dank des Rehhagel-Teams) mittlerweile Gegenkonzepte gibt, bleibt auch die moderne Beton-Strategie nur noch bei Spitzenmannschaften (Inter, Chelsea etc) erfolgreich, die ihre Destruktion auf einem spielerisch hohen Niveau vorführen.
Die letzten Nationen-Turniere (egal auf welchem Kontinent) haben allerdings vorgezeigt, dass sich letztlich die offensivwilligeren Teams, die dazu auch noch eine profunde taktische Variabiltät aufweisen, durchsetzen.

Für Griechenland spricht wiederum die Null-Erwartung. Im Land hat man andere Sorgen und in der traurigen Trinker-Gruppe A trifft man auf keinen wirklich übermächtigen Gegner.

Außerdem hat die ewige Rentnerband endlich ihr Nachwuchs-Problem abgelegt: mit Kyriakos, Sokratis, Tzavellas, Fortounis, Fetfatzidis, Mitroglou und dem ewigen Jungstar Ninis sind immerhin sieben U25-Kräfte im Einsatz, die von der seltsamen Verhaltenheit in der Vergangenheit nicht mehr geprägt sind.

Wer fehlt?

Es gab ein paar Überraschungen bei der Kader-Nominierung. Obwohl die meisten Absenzen auch wieder logisch sind. Orestis Karnezis (Panathinaikos), die eigentliche Nummer 3 wurde beim Verein so stark von Jungstar Stefanos Kapino (Jg. 94) bedrängt, dass er aus dem Team-Kader flog. Und auch Tormann Dionisios Chiotis von Apoel Nikosia.

Die beiden Außenverteidiger von Panathinaikos, Loukas Vyntra und Nikolaos Spyropoulos waren in der engeren Auswahl, ebenso Stürmer Stefanos Athanasiadis von PAOK. Auch der junge Sechser Thanos Petsos von Kaiserslautern und der alte Verteidiger Vangelis Moras (Cesena) waren eine Überlegung wert.

Lazaros Christodoulopoulos, auch von Pao, ist zu sehr Spielmacher für das Santos-System. Die Verteidiger Giannis Skondras (Atromitos), Stergios Marinos (Pao) und Giannis Zaradoukas (Giannina) wartenen ebenso vergeblich wie Stürmer Giorgos Georgiadis (PAOK).

Unbeachtet im Ausland: Apostolos Vellios (Everton), eine Zukunftsaktie. Dazu noch Pantelis Kapetanos bei Cluj. Der Rest ist zu schwach oder zu alt (wie der Langhaar-Kampfbomber Sotirios Kyrgiakos von Sunderland).

Die besten Zeiten hinter sich haben Rechtsverteidiger Georgios Seitaridis von Pao und natürlich Traianos Dellas, jetzt AEK Athen. Altersbedingt aussortiert wurden letztlich auch Pantelis Kafes (AEK), der als Mittelfeldspieler so gern die Nummer 1 trug und auch EM-Held Angelos Charisteas, jetzt bei APEP Paphos in Zypern.

Was steht zu erwarten?

Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche, mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail. Ich habe sicher den einen oder anderen Konstantinos Manolas übersehen.

Alles hängt vom ersten Spiel ab: Wenn es die Griechen schaffen aus der Opferrolle rauszukommen und gegen Polen eine halbwegs brauchbare Leistung zu bieten, dann wäre im zweiten Spiel gegen einen womöglich schon unter Druck stehenden tschechischen Gegner was drinnen.

Die geneigten User erkennen aber anhand der vielen Konjunktive und Eventualitäten, dass damit dann eher doch nicht zu rechnen ist. Ein Aufstieg der Hellenen wäre eine echte Sensation.