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Michael Riedmüller

Im Osten viel Neues: Geschichten aus der Ukraine

4. 6. 2012 - 15:01

Europäer zweiter Klasse

Die Ukrainer leiden unter Willkür und undurchschaubarer Bürokratie, wenn sie ein Visum für den Schengenraum beantragen.

Immer wieder fielen mir in den vergangenen Jahren lange Menschenschlangen auf Kiews Straßen auf. Anfänglich schenkte ich dem Ganzen nicht viel Beachtung, erst als mir auffiel, dass es immer Konsulate europäischer Staaten waren, vor denen sich die Schlangen bildeten, fragte ich nach. Die Antworten, die ich bekam, waren ernüchternd. Ein Schengen-Visum zu bekommen bedeutet für die meisten Ukrainer eine nervenaufreibende Odyssee in Kauf zu nehmen.

Festung Europa

2005 hob die ukrainische Regierung die Visumspflicht für Bürger der Europäischen Union einseitig auf in der Hoffnung, dass es in Zukunft auch Erleichterungen für die ukrainische Bürger geben würde. Es war eine naive Hoffnung, wie sich in den folgenden Jahren herausstellen sollte. Es wurde sogar schlimmer, seit Nachbarländer wie Polen oder die Slowakei dem Schengenraum beigetreten sind. Historisch eng verbunden war die Westukraine plötzlich abgetrennt von den benachbarten Regionen, mit denen mehr Gemeinsamkeiten bestehen als mit den ukrainischen Regionen im Osten. Wo es viele Jahrhunderte keine Grenzen gab, schützt heute die Schengengrenze die Festung Europa. Das Visa-Regime der EU macht den Ukrainern klar, dass sie nur Europäer zweiter Klasse sind.

Willkürliche Entscheidungen

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In der Ukraine kenne ich kaum jemanden, der nicht seine eigene Horrorgeschichte von europäischen Konsulaten erzählen kann. Um ein Schengen-Visum zu beantragen, muss eine Unzahl an Dokumente vorgelegt werden: unter anderem ein Beschäftigungs- und Einkommensnachweis, Reisedokumente und Papiere, die den Grund für die Reise belegen. Doch auch wenn man diese bürokratische Hürde überwindet, heißt das noch lange nicht, dass das Visum bewilligt wird. Am Ende liegt es in der Hand der Konsulatsmitarbeiter, den Antrag zu genehmigen oder abzulehnen. Begründen müssen sie einen negativen Bescheid nicht. Das Wort, das den ganzen Prozess am besten beschreibt, ist Willkür.

Dabei geht es nicht nur darum, am Ende ein Visum zu bekommen, sondern vor allem auch darum, wie die Ukrainer in den Konsulaten behandelt werden. Vor kurzem erzählte mir eine Bekannte die Geschichte ihres mittlerweile verstorbenen Vaters. Vor einigen Jahren erkrankte er an Krebs, in Kiew hatte er keine Möglichkeit einer adäquaten Behandlung. Als es ihm immer schlechter ging, beschloss seine Familie, ihn in eine Spezialklinik nach Deutschland zu bringen. Beim ersten Visumsantrag fehlte ein Dokument des behandelnden ukrainischen Arztes, dass er hier nicht adäquat behandelt werden kann. Es ist ein Dokument, das ein ukrainischer Arzt so gar nicht ausstellen kann. Das Ganze verzögerte den Prozess, am Ende musste er sogar selbst schwerkrank im Konsulat erscheinen. Auf das Bitten nach Beschleunigung hieß es, dass immer noch das Konsulat entscheidet, ob es um Leben und Tod geht. "Das war das erste Mal, dass ich in der Öffentlichkeit zu weinen begann", erzählte mir seine Tochter später. Als sie schlussendlich in Deutschland ankamen, sagten die dortigen Ärzte, dass er kaum noch eine Woche überlebt hätte.

Fall Irena Karpa

Erst vor einigen Tagen wurde ein Fall öffentlich, der hier für einiges Aufsehen sorgte. Irena Karpa, bekannte Schriftstellerin, Musikerin und Moderatorin, bekam einen negativen Visumsbescheid von der deutschen Botschaft. Zum ersten Mal in ihrem Leben, wie sie auf ihrem Blog der Internetzeitung "Ukrainska Pravda" schreibt. Sie reist seit zehn Jahren, nie hatte sie irgendwelche Visaregeln verletzt. Eingeladen wurde sie von "European Exchange", einer renommierten Organisation, die den Dialog mit osteuropäischen Staaten fördert. In Berlin hätte Irena Vorträge halten sollen, der "Zweck der Reise" sollte aber auch journalistische Tätigkeiten für ukrainische Medien umfassen.

Irina Kamp

Irina Kamp

Irena Karpa

Der Grund für die Ablehnung: "Die Informationen über den Zweck und die Bedingungen des geplanten Aufenthalts waren nicht überzeugend." Und: "Ihre Absicht, das Gebiet der Schengen-Staaten nach Ablauf des Visums zu verlassen, konnte nicht hergestellt werden." Irena ist 31 Jahre alt, erfolgreiche und über die Ukraine hinaus bekannte Künstlerin, verheiratet mit einem amerikanischen Geschäftsmann, Mutter zweier Kinder und viele Mal in den Schengenraum ein- und wieder ausgereist. Das alles lässt darauf schließen, dass sie ihr Leben in Kiew aufgibt, um illegal in Deutschland zu bleiben? Eine mehr als gewagte These, die sinnbildlich dafür steht, wie die europäischen Konsulate denken.

Irena Karpa wird mit hoher Wahrscheinlichkeit doch noch ein Visum bekommen. Doch im Gegensatz zu ihr haben all jene Ukrainer, die nicht in der Öffentlichkeit stehen oder Kontakte haben, kaum eine Chance, gegen einen negativen Bescheid Einspruch einzulegen. Das Schlimmste daran: Wurde man einmal abgelehnt, dann wird es in Zukunft nicht einfacher, ein Visum zu bekommen, ganz im Gegenteil. Deshalb versuchen viele junge Ukrainer erst gar nicht, nach Europa zu reisen, wenn sie nur als Touristen kommen wollen.

Bevölkerungsschwund

Natürlich darf hier nicht verschwiegen werden, dass tatsächlich sehr viele Ukrainer illegal in EU-Staaten bleiben, um hier zu arbeiten. Allein in Italien sind es schätzungsweise 800.000. Auch in Portugal und Spanien leben viele tausende Ukrainer ohne legalen Aufenthaltsstatus. Seit dem Ende der Sowjetunion gab es einen wahren Exodus. 1995 lebten in der Ukraine noch 51 Millionen Menschen, heute sind es nur 45 Millionen. Der schlechte Lebensstandard, Armut, Perspektivenlosigkeit und hohe Arbeitslosigkeit "zwingt" viele Ukrainer zur Auswanderung. Da es sehr schwer ist, auf legalem Wege eine Arbeitserlaubnis in Europa zu bekommen, versuchen viele, auf illegale Weise in den Westen zu kommen. Viele Frauen, aber auch mehr Männer als man glauben möchte, fallen dabei in die Hände von Menschenhändlern, die ihnen einen Job versprechen. Oft enden sie als Sklavenarbeiter oder Zwangsprostituierte. Alle hier wissen das und dennoch nehmen sie das Risiko in Kauf. Europa, das klingt hier für viele wie das Paradies. Dass es so schwer ist, an ein Visum zu kommen, verschärft das Problem noch.

45 Millionen Prostituierte?

Aber sollen wegen der illegalen Migranten alle Ukrainer leiden? Eine Frage an mich bei einem Gespräch hier in Kiew über das europäische Visa-Regime blieb mir am stärksten im Gedächtnis: "Glaubt ihr in Europa denn wirklich, dass bei uns 45 Millionen Prostituierte leben?" Gerade von jungen unverheirateten Frauen höre ich oft, dass sie sich fühlen, als würden sie in den europäischen Konsulaten kategorisch als Prostituierte abgekanzelt.

Das alles heißt nicht, dass es allen Ukrainern unmöglich ist, ein Visum zu bekommen. Ich selbst habe viele Freunde hier, die oft nach Europa reisen, sei es beruflich oder privat. Bei ihnen merkt man, dass sie aufgeschlossener sind, mehr über demokratische Werte nachdenken und sich selbst als Teil der europäischen Gemeinschaft sehen. Gerade deshalb wäre es umso wichtiger, die Visapflicht für die Ukraine abzuschaffen. Es würde mehr bringen als alle politischen und wirtschaftlichen Assoziierungsabkommen zusammen.