Erstellt am: 4. 6. 2012 - 11:45 Uhr
Bertl liebt uns
Hypes, Brands, Asphalt und Meer wohin man blickt. Mittendrunter ein älterer, noch immer geschminkter Mann mit einem ergrauten, überfahrenen Tier am Kopf und mit Liedern aus der Kehle, die die Massen seit Jahrzehnten bewegen. Robert Smith mit seiner mittlerweile gar nicht mehr so finsteren Armee der akustischen Rattenfänger. Spiderman had us for dinner on friday I´m in love am spanischen Primavera Festival. Beinahe drei Stunden lang
Schön mit Seifenblasen
Plainsong. Erprobter Opener diverser Konzerte und mit keinem Track könnte man ein Cure-Konzert am Meer wohl besser beginnen. Die Keyboardsounds von Roger O’Donnell sind der Soundtrack zu den Seifenblasen die einige Besucher in den vorderen Reihen gen Nachthimmel schicken; hinter der Bühne ein voller Mond, der allem wolkenlos und wohlwollend entgegenleuchtet. Die Streicheleinheiten gingen gefühlt nahtlos mit "pictures of you" weiter und zogen sich dahin. Ja, es war streckenweise kitschig galore, aber bei The Cure hält man das aus.
Eine Stunde ließen sie sich Zeit um in die tieferen Untiefen ihres Schaffens einzutauchen und endlich dann, nach einer Stunde, um exakt 23.00, "Play For Today". Spätestens seit The Cure in Paris 1993 gibt es eine Tradition, bei der das Publikum lautstark einen eigenen La-La-La Chor mitsingt. Lässt sich schwer beschreiben, ist allerdings bei den Aufzeichnungen von "Play For Today" seit Jahrzehnten zu hören, genauso wie Freitags am Primavera. Darauf folgte eine drucktechnisch fühlbar abgespeckte, um nicht zu sagen geriatrische Version von "A Forest".
EPA
Schade, aber eigentlich auch wurscht, da das Ende in „Happy Birthday, dear Simon“ einging, dem immer noch fantastisch aussehenden Simon Gallup gratulierte und klar wurde, was beim Zuhören fühlbar war: The Cure hängen sehr an den frühen Songs, nicht alle Zuschauer sind aber damit bei Laune zu halten. Wenn das Set in die Jahre des druckvollen akustischen Anschiebens der Frühzeit abdriften würde, verschwindet die Masse wahrscheinlich zusehends.
Robert gibt dem Festivalpublikum was es hören will und bei "Friday, I´m in love" hört man ihn vor lauter Mitgröhlen fast nicht mehr. War übrigens auch der erste Publikumskontakt, da er am Ende der Meinung war, this always feels better on a Friday. Ja, eh, danke, für die Getränkeholminuten. Ich hätte mich vor ein paar Jahren am Samstag im Gasometer auch besser gefühlt, wenn um 22.15 tatsächlich 10.15 on a Saturday night gespielt worden wäre. Aber, ich will nicht meckern. Nicht nur das Breitemassepublikum ist dankbarer, es könnte sein, dass spieltechnisch und gesanglich die weniger popigeren Songs ein Drei-Stunden-Set schwierig machen. Ich verstehe und bleibe.
Less Pornography, more Kiss me
Gerade rechtzeitig, nämlich als meine Stimmung von wohlwollendem Verständnis zu leichtem Grant bezüglich der totalen Missachtung meiner Lieblingsplatte kippen wollte, und exakt um 23.54 dann der erste Track von Pornography: "100 Years". Bertl hat gerade noch die Kurve gekratzt. Das gesamte Set war übrigens bestimmt von Wish, Disintegration und Kiss me, Kiss me, Kiss me. Faith wurde komplett ausgelassen und bei "Three Imaginary Boys" ist es bei imaginary leider auch geblieben.
Nach über zwei Stunden mitschwingen, einem zweiten Festivaltag und gerade als meine Beine allzu heftig protestierten, hat der nette Mann noch einmal richtig Gas gegeben: Lovecats, Caterpillar Girl, Let´s go to bed, Close to me und ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor Just one kiss auf einem Livekonzert gehört zu haben. Bravissimo und danke. Bevor das Set mit dem obligatorischen Kommerzdauerbrenner "Boys don't cry" beendet wurde, gab es sogar auch noch einen der beschwingtesten Curetracks ever mit "Why can't I be you". Extrem super und ein letztes Mal danke. Für diesmal.
More please
The Cure am FM4 Frequency 2012
The Cure spielen auch am FM4 Frequency Festival 2012 (16.-18. August im Green Park Sankt Pölten). Hier geht's zum gesamten Line up.
Man kann von Robert Smith und dem Rest der Gang halten was man will: ein fast dreistündiges Inferno zu fortgeschrittener Stunde nicht nur kurzweilig zu gestalten, dem über 30-jährigen Schaffen (fast) gerecht zu werden und das alles mit einer Stimme wie ein frischgeschlüpftes Lercherl, trotz bekannten jahrelangen Drogenkonsums, das macht ihm so schnell niemand nach. Egal, wie das Set für das FM4 Frequency zusammengestellt wird; und ja, ich praktiziere Setlistvoodoo, man kann sich auf Robert, Simon und die anderen freuen.
Prima?vera
Irgendjemand hat am Festival einen riesigen Karton gebastelt, wo man seinen Kopf durchstecken konnte. Am Karton waren hippe Festivalbesucher mit Primavera Pro Sackerln gezeichnet und darüber stand „this used to be a good festival“. Leider verschwand der Karton, bevor ich meinen Fotoapparat holen konnte.
Ja, es ist völlig außer Frage, dass das Festival mit den einheimischen Großveranstaltungen überhaupt nicht zu vergleichen ist. Wenn man hier nicht weiter denken will, dann ist das Primavera Festival ein Spektakel. Wenn man genauer hinsieht, dann erkennt man ein Lineup der „independent“ Gazetten und deren Hypes: musikalische Vielfalt OHNE eine durch Hypes bestimmte Vorauswahl ist hier nicht drinnen.
Marken, Marken, Marken - von Autos über Schuhe, Brillen und Zuckerl. Falls man unschlüssig ist, welches Auto man kaufen möchte, hier konnte man es bestaunen. Brillenhersteller branden nicht nur mehr Bühnen, nein: innerhalb und entlang des Zuschauerbereichs gut beleuchtet und hinterglast, gibt es Modelle der aktuellen Brillenkollektionen zu bestaunen, falls die Bands doch nicht so interessant sind. Die sind in der nächsten Ausgabe des Indiemagazines dann eh wieder weniger hip, aber dafür kennt man den Konzern, bei dem es die chicsten Brillen gibt.
Alle, die zwar auch Geld bezahlen, um hier vertreten sein zu können, allerdings keine Großkonzerne oder hippe Magazine hinter sich haben, von kleinen Labels, Handwerkern bis zu Künstlern setzt man in dieselben braunen Zelte. Sind eh Gemischtwarenhändler. Dass eine Gig-Poster-Ausstellung von internationalen Künstlern stattgefunden hat, war am Besucherplan nicht mal eingezeichnet, geschweige denn war es hinter den Kulissen den Ausstellern ohne Probleme gestattet eigene Getränke und Essen mitzubringen.
Mitten im Zentrum von Barcelona gab es anlässlich des Festivals übrigens eine gratis zu besuchende Ausstellung. All das ohne die wirtschaftliche Situation der Menschen im Land zu erwähnen. Wozu auch. Hip, gebrandet, eklektisch, eskapistisch, ohne den Anspruch auf kulturelle Vielfalt, Eigenständigkeit, Mut zu Eigeninitiativen, selbständigen Denken, oder Querdenkerei, DIY und ich versteh das Wort Independent eigentlich nicht mehr. Muss ich auch nicht, ich fahr lieber nach Roskilde wo auf derselben Bühne Converge, Beatsteaks, Sunn 0))), Bloc Party und japanische Trommlergruppen spielen können und wenn sich Hipster oder "Musikpros" dorthin trauen, dann werden sie mit Erbsen im Plastiksackerl versorgt.
Summa Summarum, es geht wahrscheinlich nicht mehr ohne Brands. Aber es geht mit weniger und mehr Mut.