Erstellt am: 3. 6. 2012 - 21:55 Uhr
EM-Journal '12-13.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Heute: ein genauerer Blick auf eines der sechzehn teilnehmenden Teams - die Niederlande
Bisher erschienen:
1) England
2) Tschechien
3) Portugal
4) Irland
5) Dänemark
6) Schweden
7) Kroatien
8) Polen
9) Italien
10) Ukraine
11) Russland
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journal '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12 . Upcoming, im August: ein Journal zu dem London-Olympics.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.
Vorweg: ich liebe den niederländischen Fußball. Er ist seit den 70ern eine Inspirationsquelle für Kreativität, Widerborstigkeit, Streben nach Verbesserung und Alltags-Poesie; nicht im Fußball, sondern im wirklichen Leben. Der totaalvoetbal, den Rinus Michels, Johan Cruyff und andere erfunden haben, ist nämlich ein ganzheitliches Lebenskonzept. Das erhebt ihn über viele andere, unpolitische und Partikulär-Interessen unterworfenen Spiel-Philosophien.
Der Totale Fußball hat 2010 das WM-Finale bestritten: die Oranje, die Erben in Cruyffs Heimat, stand da seinen Ziehsöhnen gegenüber, die seine Philosophie aus seiner stilprägenden Trainer-Station in Barcelona übernommen haben. Gewonnen haben die besseren Holländer: nämlich die Spanier.
Und genau das ist das Problem.
Die Elftal spielt seit bereits geraumer Zeit einen berechnenden Sicherheitsfußball. Es haben sich Destrukteure wie De Jong oder Van Bommel ins Team eingeschlichen, die an deutsche Dampfwalzen der Vergangenheit gemahnen. Dort wo früher die Neeskens und die Davids ihren Anteil am Offensivspiel geleistet haben, wird heute starr verteidigt und auch die Abwehr der Oranje ist seit vielen Jahren spielschwach.
Das offensive Viereck vorne (das vier aus dem Sextett Kuyt, Sneijder, Robben, Van der Vaart, Van Persie, Huntelaar bilden) blendet diese missliche Lage mit einem Feuerwerk an Ideen weg. Dahinter aber ist die blanke Ratlosigkeit versammelt. Mit dem Totalen Fußball, bei dem auch der linke Außenverteidiger rechts stürmen kann, bei dem der zentrale Verteidiger unvermutet im gegnerischen Strafraum agiert, bei dem der Spielmacher plötzlich letzter Mann ist, mit diesem totalen Fußball hat das was in den letzten Jahren holländischerseits geboten wird, zunehmend weniger zu tun.
Noch passiert das von großen Teilen der Öffentlichkeit unbemerkt, weil sowohl die Geschichte als auch Power-Offensive das noch überstrahlen.
Der Grund so zu spielen ist einleuchtend: Man will nicht nur schön spielen, wie seit den 70ern eh immer, sondern auch einmal was gewinnen. Und ahmt da deutsche/italienische/andere Tugenden nach, allerdings ohne deren Philosophie zu begreifen. Deshalb auch die völlig verquere Herangehensweise im 2010er-Finale und eine von der ganzen Welt begrüßte Niederlage.
Das ist Neuland für die Holländer: das man sie nach einem Turnier nicht für ihr tolles Spiel lobt, sondern dass ihnen weltweit ein "Recht-geschieht-euch!" entgegenschallt.
Ungleichgewicht zwischen Rammböcken und Kreativ-Genies
Seit dem 11. Juli 2011 hat sich so gut wie nichts geändert. Kapitän Giovanni Van Bronckhorst ist zurückgetreten; sonst spielt die exakt gleiche Mannschaft das exakt selbe erfolgsorientierte Spiel des fallenden Engels. Sie hat nichts dazugelernt. Kapitän ist jetzt der Schwiegersohn des Trainers, Marc Van Bommel, eine Art weniger grausiger Effenberg. Neben ihm rammt Nigel de Jong (der mit dem Karate-Tritt gegen Xabi Alonso im Finalmatch) die Gegner weg.
Bert Van Marwijks Elftal-Kader:
Tor: 1 Maarten Stekelen-burg (Roma/ITA), 22 Tim Krul (Newcastle/ENG), 12 Michel Vorm (Swansea/ ENG).
Abwehr: 2 Gregory van der Wiel (Ajax), 21 Khalid Boulahrouz (Stuttgart/D), 3 John Heitinga (Everton/ ENG), 4 Joris Mathijsen (Malaga/SPA), 13 Ron Vlaar (Feyenoord), 5 Wilfred Bouma, 15 Jetro Willems (PSV).
Mittelfeld: 6 Mark van Bommel (Milan/ITA), 8 Nigel de Jong (Manchester City/ENG), 17 Kevin Strootman (PSV), 14 Stijn Schaars (Sporting/POR), 10 Wesley Sneijder (Internazionale/ITA), 23 Rafael van der Vaart (Tottenham/ENG), 19 Luciano Narsingh (Heerenveen), 20 Ibrahim Afellay (Barcelona/SPA),
Angriff: 7 Dirk Kuyt (Liverpool/ENG -> Fenerbahce/TUR), 11 Arjen Robben (Bayern München/ D), 9 Klaas-Jan Huntelaar (Schalke/D), 18 Luuk de Jong (Twente), 16 Robin van Persie (Arsenal/ENG).
Stand-By: Vurnon Anita (Ajax), Stefan de Vrij (Feyenoord), Adam Maher (AZ), Jeremain Lens (PSV).
Im Großkader waren noch Jasper Cillissen (Ajax), Erwin Mulder (Feyenoord); Urby Emanuelson (Milan/ITA), Hedwiges Maduro (Valencia/SPA) Alexander Büttner (Vitesse), Nick Viergever (AZ), Georginio Wijnaldum (PSV); Ola John (Twente), Siem de Jong (Ajax).
Dahinter sind Mathijsen-Heitinga (soweit sie fit werden, ihre Ersatzleute sind um nichts besser) froh, wenn sie die Bälle aus der Gefahrenzone dreschen. Seit dem Abgang von Gio hat es Coach Van Marwijk nicht geschafft, einen linken Verteidiger von Klasse aufzubauen - der einzige halbwegs entsprechende, Erik Pieters vom PSV ist jetzt auch noch verletzt.
Vorne sind Robben/Sneijder/Van der Vaart immer Kandidaten für einen spielerischen Totalausfall. Und weil Van Marwijk nicht die Besten aufstellt, sondern sein striktes, mit dem Zirkel nachzuzeichnendes 4-2-3-1 spielt, gibt es zwischen Huntelaar und Van Persie Dauerstunk um die Rolle der vordersten Spitze.
Ihr merkt, ich bin nicht objektiv, sondern angepisst. Von einem starren, nein einem erstarrten System, das alles dem verkrampften Weg zum Erfolg unterordnet. Dort wo die DFB-Truppe um Jogi Löw locker ist, muffeln die Niederländer jetzt herum, grummelig und angespannt.
Keine Frage: die individuelle Klasse der Offensive ist so hoch, dass sie an einem guten Tag 13 der gegnerischen Teams mit links wegballert. Und Stekelenburg oder Van der Wiel sind auch Klasse.
Aber: Ist das genug? Ist das eines holländischen Teams würdig? Kann die aktuelle Generation das, was der niederländische Fußball ausmacht, vorzeigen, international auf der großen Bühne?
Mir ist das, was die Truppe seit 3, 4 Jahren anbietet zuwenig.
Ich will ein zentrales Mittelfeld aus der Moderne, nicht eins das Lothar Matthäus gefällt. Ich will Unberechenbarkeit in der Offensive, die über den einen Trick von Robben, die Freistoß-Kunst von Sneijder und das leidende Boulevard-gesicht von Van der Vaart hinausgeht.
Ich will ein Stück Unsterblichkeit, wie es noch in jeder holländischen Mannschaft seit den Tagen von Cruyff gesteckt ist. Das mag unbescheiden oder zu viel verlangt sein - aber solange die Möglichkeit besteht, ist es obszön sich mit weniger zufriedenzugeben.
Wer fehlt?
Am schlimmsten wiegt der Ausfall von PSV left-back Erik Pieters. Da hat Van Marwijk nur Notlösungen in der Hinterhand. Verletzt ist auch Roy Beerens (AZ).
Absurd mutet an, dass Van Marwijk Jasper Cillessen, Ajax Nummer 2 in seinen Großkader berief und die Nummer 1, Kenneth Vermeer, draußen ließ.
Andere Spieler, die in der Quali eine Rolle spielten und aus dem Blickfeld gerieten: Tormann-Oldie Sander Boschker (Twente) und sein Kollege Piet Velthuizen (Vitesse). Peter Wisgerhof, der Kapitän von Twente Enschede fehlt wie Mitspieler Wout Brama, Theo Janssen (Ajax), Demy de Zeeuw von Spartak Moskau oder Eljero Elia von Juventus Turin.
Der holländische Torschützenkölnig Bas Dost (Heerenveen)
eben vom VfL Wolfsburg geshoppt, war keine Überlegung wert.
Ruud van Nistelrooy (Málaga) hat mit Saisonende seinen Rücktritt erklärt. Andere Oldies wie Clarence Seedorf, Jan Vennegor of Hesselink, Danny Landzaat oder Tim Cornelisse kommen ebenso nicht mehr in Frage. Ryan Babel und Edson Braafheid (Hoffenheim) sind ebenso wie Orlando Engelaar (PSV) oder Jeffrey Bruma (HSV) weit weg von Nominierungsform
Nie wirklich eine Chance ins Team zu kommen hatten Ricky Van Wolfswinkel von Sporting Portugal, Jonathan de Guzmán von Villereal, Otman Bakkal von Feyenoord, Royston Drenthe von Everton oder Roel Brouwers (Mönchengladbach). Natürlich hat auch David Mendes da Silva von Red Bull Salzburg, der beste Spieler der heimischen Bundesliga, der im Ranking der níederländischen Legionäre allerdings nur die Nummer 38 ist, kein Leiberl.
Junge Spieler wie Nacer Barazite (jetzt Monaco, früher Austria), Luc Castaignos (Inter), Leroy Fer (Twente), Jordy Clasie (Feyenoord) werden in der U21 aufgebaut.
Was steht zu erwarten?
Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche, mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail. Ich habe sicher den einen oder anderen Dirk Marcellis übersehen.
Wenn nichts Unvorhersehbares passiert, dann schafft die Elftal die Horror-Gruppe B. Portugal hat noch mehr Probleme mit der Justierung einer sinnvollen Philosophie als man selber. Dänemarks Defensive ist löchrig und moralisch angeknackst und sollte der starken Offensive nicht Paroli bieten können und gegen die Deutschen muss man nicht gewinnen. Im Viertelfinale würde ein Teilnehmer der Gruppe A warten - die sind allesamt zu schlagen.
Die Niederlande hat also reele Chancen aufs Semifinale.