Erstellt am: 2. 6. 2012 - 21:03 Uhr
EM-Journal '12-12.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Heute: ein genauerer Blick auf eines der sechzehn teilnehmenden Teams - Russland
Bisher erschienen:
1) England
2) Tschechien
3) Portugal
4) Irland
5) Dänemark
6) Schweden
7) Kroatien
8) Polen
9) Italien
10) Ukraine
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journal '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12 . Upcoming, im August: ein Journal zu dem London-Olympics.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.
Manchmal ist es wie im richtigen Leben: alles, was in der Ukraine nicht so recht flutscht (egal ob ein effektives Oligarchen-Regime, die Mundtotmachung der Opposition, der Beitritt in die Riege der ökonomischen Erpresser-Nationen), zeigt der große Nachbar Russland deutlich besser vor.
Das betrifft auch den Aufbau eines kompakten Nationalteams. Wer sich gestern zuerst den Auftritt der Ukraine in Innsbruck und dann den Auftritt Russlands in Zürich angesehen hat, weiß, wovon ich spreche. Die anderen lesen jetzt von einem 3:0 Sieg der Sbornaja über Italien und werden sie vielleicht jetzt als Geheimfavorit wetten.
Ich würde meinen: abwarten.
Nicht nur, weil trotz der Niederlage Italien das bessere Team war (auch wenn vieles von dem, was ich vorgestern angesprochen habe tatsächlich eingetreten ist; allerdings: so ein Ausrutscher passiert einem nicht zweimal hintereinander), sondern auch, weil die Mannschaft von Trainer-Fuchs Dick Advocaat ihre altbekannten Schwächen wieder einmal nicht verbergen konnte.
Verwirrt?
Ja, das ist Russland. Eine gute, teilweise sehr sehr gute (erinnert sich noch jemand an ihre Auftritte bei der Euro 08 - ich höre Zungenschnalzen!) Mannschaft, die aber innerhalb von Minuten ausgeknockt werden kann. Ein Champion mit einem Glaskinn.
Russland verfügt über praktisch keinen Talente-Export mehr, die Liga kauft massiv im Ausland (gerne in Südamerika) ein - weshalb sich die 30, 40 Akteure, die überhaupt teamtauglich sind, ganz von selber ergeben.
Es gibt nicht nur keine konzertierte Nachwuchs-Förderung, keinen Austausch mit Fußball-Schulen anderer Ligen, sondern dazu auch noch den Hang, Talente lange reifen zu lassen, ehe man auf sie setzt. Es ist kein Zufall, dass nur zwei Unter-25-Jährige im EM-Kader sind und dass der erste Anzug 30 Jahre alt ist.
Dazu kommen seit Jahren nicht ausgemerzte, sondern nur dezent prolongierte Schwächen in einzelnen Mannschaftsteilen.
Advocaat macht aus dem, was er vor sich hat, eh eine Menge. Zum einen vertraut er einer eingespielten Einheit, die Pass/Laufwege und Schrittlänge der Mitspieler auswendig kennt. Das erreicht er auch, weil er auf Blockbildung setzt: die Abwehr von ZSKA, das Mittelfeld und der Angriff aus St. Petersburg. Mit dieser Mannschaft wurde Advocaat Meister, die hat er geprägt, über sie hat er den russischen Fußball verstanden und beeinflusst gleichzeitig - weshalb er auch so gut dorthin passt.
Der Champion mit dem Glaskinn
Das System ist auch seit Jahren dasselbe: ein 4-3-3, das zunächst sehr vorsichtig wirkt, durch die teilweise gewagte Interpretation einzelner Akteure aber in eine gewaltige Offensivwalze ausarten kann. In den besten Momenten gegen Italien war das ansatzweise zu sehen: bei schnellen Gegenstößen schwärmen plötzlich vier oder fünf Anspielstationen für den Ballführenden aus, was jede Abwehr sofort in nervöses Keuchen verfallen lässt.
Dick Advocaats Lieblinge:
Tor: 1 Igor Akinfeev (ZSKA Moskau), 16 Vyacheslav Malafeev (Zenit St Peters-burg), 13 Anton Shunin (Dinamo Moskau).
Abwehr: 2 Aleksandr Anyukov (Zenit St Peters-burg), 21 Kirill Nababkin, 12 Aleksei Berezutski, 4 Sergei Ignashevich (ZSKA Moskau), 19 Vladimir Granat (Dinamo Moskau), 3 Roman Sharonov (Rubin Kazan), 5 Yuri Zhirkov (Anzhi Makhachkala).
Mittelfeld: 7 Igor Denisov, 6 Roman Shirokov, 8 Konstantin Zyryanov (Zenit St Petersburg), 22 Denis Glushakov (Lokomotiv Moskau), 23 Igor Semshov (Dinamo Moskau), 9 Marat Izmailov (Sporting/POR), 17 Alan Dzagoev (ZSKA Moskau), 18 Aleksandr Kokorin (Dinamo Moskau), 15 Dmitri Kombarov (Spartak Moskau).
Angriff: 10 Andrey Arshavin, 11 Aleksandr Kerzhakov (Zenit St Petersburg), 14 Roman Pavlyuchenko (Lokomotiv Moskau), 20 Pavel Pogrebnyak (Fulham/ ENG).
Auf Abruf: Magomed Ozdoev (Lokomotiv Moskau), Artem Dzyuba (Spartak Moskau).
Der bereits nominierte Vasili Berezutski (ZSKA Moskau), Zwillingsbruder des Aleksei, fiel ebenso verletzt aus wie Abwehr- Kollege Roman Shishkin (Lokomotiv Moskau).
Die Mannschaft spielt das fächerförmige 4-3-3 nämlich optimal aus. Die beiden Achter, die den einzig wirklich defensiv orientierten Mann vor der Abwehr (Denisov), flankieren - nämlich Shirokov und Zyryanov - verstehen sich als Impulsgeber und Nachrücker.
Die beiden Außenpositionen im russischen System sind keine Flügel im klassischen Sinn: links spielt der Kapitän Arshavin eine hängende Spitze mit allen Freiheiten, der Platz rechts ist umkämpft, aber egal es ob Dzagoev oder der zuletzt überraschend forcierte Izmailov macht - auch das ist ein Halbstürmer, der nicht auf der Linie klebt, sondern ins Zentrum stößt.
Über die Seiten kommen nämlich die Außenverteidiger: rechts Anyukov und links Zhirkov und vor allem Letzterer ist ein Akteur, der einen gleichzeitig vogelwilden und abgeklärten Stil pflegt, ein unausrechenbares Genie.
Zudem steht im russischen Tor ebenfalls ein ganz großer - und zwar egal ob es Akinfeev oder Malafeev sein wird; beide spielen auf allerallerhöchstem Level.
Das klingt zu schön um wahr zu sein, oder?
Deshalb schnell zu den Schwächen. Da wäre zuerst die Innenverteidigung: seit Jahren dürfen dort Ignashevich und die Berezutski-Brüder ran (von denen jetzt einer verletzt ausfällt); und die sind dann, bei aller Klasse, doch eher Klopfer der alten Schule, unbeweglich und ausrechenbar. Wenn die beiden Innenverteidiger sich, nur mit Unterstützung von Denisov, einem Konter gegenübersehen, schaun sie sehr gerne sehr schlecht aus.
Die anderen Problemzonen liegen nicht im Personal, sondern in deren Köpfen.
Zuerst einmal ist dieses Team alt. Zu alt. Und es ist keinem Druck ausgesetzt. Die wenigen jungen Nachrücker müssen erst an den Legionären in den Spitzenteams vorbei und verbrauchen sich dort. Das bedeutet natürlich auch, dass man mit etwas weniger Anstrengung lange im Teamkader bleiben kann. Nicht gut.
Dann ist dieses Team zwar King in der Heimat, aber meist Bettelmann im Ausland. Arshavin, das kleine Genie: bei Arsenal nicht durchgesetzt; Pogrebnyak, bei seiner Euro-Tour noch nie wirklich angekommen; Zhirkov, enttäuscht von Chelsea geflohen.
Das führt zu einer "die wolln uns nicht, die Ausländer!"-Bunkermentalität, das wiederum zu einem Kochen im eigenen Saft in einer Liga führt, die ihren Charakter erst noch finden muss. Und es zieht einen Export-Stopp nach sich, der für eine Nation, die noch nicht zu den ganz Großen, zu den üblichen Verdächtigen gehört, ganz fatal ist. Wer seine besten Kräfte nicht in die Welt ziehen lässt, wird nichts dazu lernen.
Weshalb sich dieses russische Nationalteam, so fein es besetzt ist, so hoch das Potential der Einzelnen ist, sich dann doch wohl nur als in die Jahre gekommene Blaupause der 08er-Mannschaft entpuppen wird.
Wer fehlt?
Bleiben wir gleich bei den Legionären: da ist seit Jahren Izmailov bei Sporting Portugal die einzige Konstante. Neben der Ausnahme Pogrebnyak ist mit dem älteren Tingler Dmitri Bulykin (jetzt bei Ajax) und Sergey Samodin, der als Grenzgänger bei Kryvbas Rig in der Ukraine spielt, niemand außerhalb Russlands unterwegs. Das ist, mit Verlaub, lächerlich.
Mein großer Abwesender ist der polyvalente Mittelfeldspieler Diniyar Bilyaletdinov von Spartak, auch ein in England (Everton) gescheiterter, der unverständlicherweise aus dem Kader gekippt ist.
Aus der Quali gehen mir drei Spieler von Lok Moskau (das aber eine schwache Saison spielte) ab: Linksverteidiger Renat Yanbaev, Mittelfeldspieler Dmitri Torbinskiy und der unstete Dmitri Sychev, auch so einer mit einer nicht zufriedenstellenden europäischen Vergangenheit.
Von Zenit fehlen Viktor Faizulin, Vladimir Bystrov, Aleksandr Bukharov und der zurückgetretene Oldie Sergej Semak.
Von Spartak fehlen Evegeni Makeev und Aleksandr Sheshukov. Kapitän Sergey Parshivlyuk ist eh verletzt.
Von ZSKA wären noch Pavel Mameev oder Georgi Schennikov, von Rostov Denis Kolodin und von Dinamo Aleksandr Samedov einen Blick wert gewesen.
Aus Prinzip (Advocaat schätzt ihren Stil nicht) fehlen fast alle Spieler von Rubin Kazan: Tormann Sergei Ryzhikov, Alan Kasav, Aleksandr Ryazantsev oder Vladimir Dyadyun.
Als Tormann Nummer 4 out ist Vladimir Gabulov (Anzhi). Für aufkommende Talente wie Taras Burlak (Lok), Oleg Shatov(Anzhi) oder Maksim Kanunnikov (Zenit) wird sich der Blick wohl erst in ein paar Jahren öffnen. Immerhin ist Magomed Ozdoev (Lok) bereits auf Abruf dabei.
Was steht zu erwarten?
Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche, mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail. Ich habe sicher den einen oder anderen Evgeni Aldonin übersehen.
In der Gruppe der traurigen Trinker-Teams ist Russland spätestens nach dem versehentlichen 3:0 gegen Italien jetzt der Top-Favorit. Wenn Advocaats Team seine Erfahrung, die taktische Cleverness und die individuelle Klasse abrufen kann, könnte sie sogar richtiggehend durchmarschieren.
Irgendwie mag ich dieser Idylle aber nicht trauen. Das russische Team ist immer für einen grotesken Ausrutscher gut und tut sich gern ein wenig zu sehr leid, wenn etwas nicht so klappt, wie man es gern hätte.
Viel wird auch von der Fitness von nicht ersetzbaren Schlüsselspielern wie Anyukov, Zhirkov und Arshavin abhängen.