Erstellt am: 1. 6. 2012 - 16:46 Uhr
EM-Journal '12-11.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Heute: ein genauerer Blick auf eines der sechzehn teilnehmenden Teams - Ukraine
Bisher erschienen:
1) England
2) Tschechien
3) Portugal
4) Irland
5) Dänemark
6) Schweden
7) Kroatien
8) Polen
9) Italien
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journal '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12 . Upcoming, im August: ein Journal zu dem London-Olympics.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.
Die gute Nachricht zuerst: was die Ukraine kann, wird sich heute abend in Innsbruck zeigen. Denn Coach Oleg Blokhin (als erster Ostler Europas Fußballer des Jahres und zudem ein Mann mit Österreich-Erfahrung als Spieler) wird diesen finalen Test wohl dazu nützen, sein Einser-Team zu präsentieren.
Jetzt die schlechte Nachricht: die Ukraine spielt eine Heim-Euro - wie soll sie da in einem Auswärtsspiel also ihr wahres Gesicht zeigen? Blokhin wird wohl noch ein paar Personal-Varianten testen.
Vielleicht ist es deshalb schlauer, auf die direkte Begegnung mit der Ukraine in der Ukraine zurückzugreifen. Und die gab es am 15. November des Vorjahres - gegen Österreich in Lviv.
Blokhin probierte da seine beiden strategischen Varianten durch: er begann mit einem sehr kompakten 4-5-1 mit zwei äußerst agilen Flügeln, einem echten Zehner und einer einzelnen Spitze; in der Schlussphase, als er aus dem 1:1 noch einen Sieg machen wollte, brachte er ein 4-4-2 auf den Platz, indem er den Zehner durch eine zweite Spitze ersetzte. Die Viererabwehr und das zentrale Mittelfeld blieben das gesamte Spiel über gleich.
Schlüssel des ukrainischen Spiels, im November in Lviv, aber auch sonst: die beiden jungen Flügel Konoplyanka und Yarmolenko (beide sind erst 22), die bereits über ein ausgefuchstes Spielverständnis verfügen und hohes Tempo, tolle Technik und taktische Raffinesse verfügen.
In der Zentrale agiert mit dem sehr blonden Tymoshchuk von Bayern ein Mann mit hoher internationaler Erfahrung, neben ihm gibt Rotan als Achter das Tempo vor.
Diese vier Mittelfeldspieler sind das absolute Prunkstück im Team. Der Rest macht deutlich mehr Probleme.
Im Tor steht die nur dritte oder vierte Wahl (Details dazu siehe -> "Wer fehlt?"). Die Abwehr-Zentrale kommt im Block daher - Blokhin kann entweder die Kiev- oder die Donetsk-Variante auflaufen lassen. Auf den Außenverteidiger-Positionen wurde bis zuletzt probiert und verworfen - ohne auf wirklich gute Lösungen zu treffen: Butko/Selin sind echte Schwachstellen.
Fürs offensive Zentrum drängt sich neben Aliyev niemand wirklich auf, weshalb auch einer der nominellen Stürmer eine hängende Spitze in einem 4-4-1-1 geben könnte - und auch im Angriff selbst sieht es nicht so rosig aus. Kapitän Andriy Shevchenko war schon bei der WM 2006 gefühlt wesentlich zu alt, Voronin und Milevskiy sich nicht in Form, Beute-Serbe Devic wird (auch aus nationalistischen Gründen) nicht so gerne eingesetzt.
Blokhins Plus: Zwei tolle Flügel und zwei Systeme
Oleg Blokhins finale Auswahl:
Tor: 1 Maxym Koval (Dynamo Kiev), 12 Andriy Pyatov (Shakhtar Donetsk), 23 Oleksandr Goryainov (Metalist Kharkiv).
Abwehr: 21 Bohdan Butko (Illychivets Mariupil), 3 Yevgen Khacheridi, 17 Taras Mikhalik (Dynamo Kiev), 5 Olexandr Kucher, 20 Yaroslav Rakitskiy, 13 Vyacheslav Shevchuk (Shakhtar Donetsk), 2 Yevhen Selin (Vorskla Poltava).
Mittelfeld: 4 Anatoliy Tymoshchuk (Bayern München/DEU), 6 Denys Garmash, 8 Olexandr Aliyev, 9 Oleg Gusev, 11 Andriy Yarmolenko (Dynamo Kiev), 14 Ruslan Rotan, 19 Yevhen Konoplyanka (Dnipro Dnipropetrovsk), 18 Sergiy Nazarenko (Tavriya Simferopol).
Angriff: 10 Andriy Voronin (Dinamo Moskau/RUS), 7 Andriy Shevchenko, 15 Artem Milevskiy (Dynamo Kiev), 22 Marko Devic alias Devych (Metalist Kharkiv), 16 Yevgen Seleznyov (Shakhtar Donetsk).
Auf Abruf: Oleksandr Bandura (Metalurh Donetsk); Vitaly Mandziuk (Dnipro Dnipropetrovsk), Taras Stepanenko (Dynamo Kiev).
Im Großkader: Bogdan Shust (Shakhtar Donetsk); Artem Fedetskiy (Karpaty Lviv), Oleksandr Volovyk (Metalurg Donetsk), Roman Bezus (Vorskla Poltava), Maksym Kalynychenko, Anton Shynder (Tavriya Simferopol), Edmar Galovsky (Metalist Kharkiv), Oleksandr Kovpak (Arsenal Kyiv).
Blokhin (und seine Cos Kalitvintsev und Bal) machen das Beste aus diesen Vorgaben: man lässt die Abwehr kompakt und eng stehen, was deren Mangel an Offensiv-Fähigkeit kaschiert. Dasselbe gilt für das Mittelfeld, was die beiden Super-Flügel dazu zwingt ein Spiel lang zwei Jobs zu erledigen (was sich wegen ihrer jugendlichen Verve irgendwie ausgeht). Offensive Aktionen laufen dann über eben Konoplyanka und Yarmolenko, also die Seiten, oder über genau gestochene flache Lochpasses aus der Zentrale (und das können alle dort Aufgebotenen) in die Spitze/n. Deren Job wird also so leicht wie möglich gemacht; auch um Sheva überhaupt ins Spiel einbeziehen zu können.
Das sieht gegen schwächere oder gleich starke Teams nicht so schlecht aus. Gegen spielstarke Teams tut sich die Ukraine aber schwer. Zudem fehlen die großen Alternativen: Gusev oder Nazarenko sind bereits alte Knochen, so richtig Druck macht von der Bank niemand.
Genau deshalb muss sich Blokhin auf seine Fähigkeiten, die Mannschaft von außen je nach Spiel-Situation umzusortieren, verlassen. Das wurde in den zahlreichen Tests geprobt, in denen man Niederlagen in Kauf nahm um zu lernen und zu justieren und führte dann etwa zum 3:3 gegen Deutschland im November.
Der Vorteil der Ukraine ist die nicht sonderlich hohe Erwartungshaltung: weil mit Frankreich und England zwei echte Top-Nationen zu ihnen in die Gruppe D gelost wurden, wird sich niemand über ein Scheitern in Phase 1 beschweren. Insofern ist der bislang durchaus phlegmatische Umgang (was das Spiel auf dem Platz betrifft) vielleicht eh die beste Lösung.
Wer fehlt?
Natürlich hat die Ukraine ein Tormann-Problem. Die Top 3-Goalies fallen aus: die Nummer 1 Oleksandr Rybka (Shakhtar Donetsk) wegen einer Dopingsperre, die Nummer 2 Oleksandr Shovkovskiy (Dynamo Kiev) wegen einer Schulter-, die Nummer 3 Andriy Dykan (Spartak Moskau/RUS) wegen einer Gesichts-Verletzung.
Das wegzustecken ist schon eine heftige Bürde. Auf den Beuteserben Vladimir Disljenkovic von Metalist Kharkiv verzichtete Blokhin auch noch. Denys Boyko von Kryvbas Rig ist noch zu U21.
Ein weiterer harter Schlag ist das Out des langzeitverletzten Abwehrchefs und Ex-Barcelona-Kickers Dmytro Chygrynskiy von Shakhtar Donetsk.
Dazu fehlen Chygrynskiys Shakhtar Donetsk-Teamkollegen Vasyl Kobin und vor allem Oleksiy Gai, die nicht einmal in den recht umfangreichen Großkader durften.
Überraschend nicht im Aufgebot, sondern nur in eben jenem Großkader befindet sich Rechtsverteidiger Artem Fedetzky aus Lviv, den ich (wenn auch nur auf Basis seiner Leistung im Novemberspiel gegen Österreich) Butko deutlich vorziehen würde.
Ebenfalls ausprobiert und verworfen wurden Versuche mit Evgen Cheberyachko, Sergiy Kravchenko, Denys Oliynyk und Oleksiy Antonov von Dnipropetrovsk, Igor Khudobyak aus Lviv und Mykola Ischenko und Denys Kozhanov aus Mariupol.
Denys Kulakov von Dnipropetrovsk ist verletzt. Dem Beute-Brasilianer Edmar Aparecido Golovsky (Metalist Kharkiv) half seine neue Staatsbürgerschaft nur in den Großkader.
Über nennenswerte Legionäre verfügt die Ukraine abseits von Tymoshchuk, Voronin und Dykan nicht: einzig Oleksandr Yakovenko von Leuven in Belgien wäre noch beachtenswert.
Was steht zu erwarten?
Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche, mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail (martin.blumenau@orf.at). Ich habe sicher den einen oder anderen Sergiy Kryvtsov übersehen.
Mit Frankreich wird sich Blokhins Team schwer tun, das Spiel der Engländer und Schweden könnte dem ukrainischen Ansatz der kompakten Vorsicht aber entgegenkommen.
Nicht dass ich wirklich an einen Aufstieg ins Viertelfinale glaube, aber unmöglich ist es aufgrund der klaren Außenseiter-Position der Gelben nicht. Und im Gegensatz zu Co-Host Polen, von denen die gesamte Heimat einen Durchmarsch fordert, stehen Blokhin/Shevchenko deutlich weniger unter Druck. Und das ist oft der entscheidende Faktor für erhöhte Lockerheit.