Erstellt am: 1. 6. 2012 - 18:40 Uhr
Nicht arm, nicht reich: so mittel
Sepp Bierbichler ist ein Baum von einem Mann. Wenn er auf einer Bühne erscheint, dann nimmt er sie automatisch ein. Nicht mit einem krachenden Hallohierbinich, nein, Sepp Bierbichler ist einer der besten deutschsprachigen Schauspieler. Seine Präsenz ist mal laut, mal leise, wie selbstverständlich zieht er die Blicke auf sich.
Stur, rebellisch, eigensinnig
Suhrkamp Verlag
"Mittelreich" von Josef Bierbichler hat 391 Seiten und ist bei Suhrkamp erschienen.
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Ein bayerisches Mannsbild, fast wie es dem Klischee entspricht, obwohl Bierbichler selbst so gar nicht dem Klischee vom Bayern entspricht. "Entdeckt" wurde er vom Enfant terrible Herbert Achternbusch, der seit den 1970er Jahren mit seinen skurrilen, politischen, bisweilen blasphemischen Filmen aneckt; später spielt er neben dem Theater in Filmen von Werner Herzog, Tom Tykwer und Michael Haneke. Und als rebellisch und eigensinnig wird auch Bierbichler beschrieben, was seiner Anerkennung als Schauspieler keinen Abbruch tut.
"Mittelreich" ist Josef Bierbichlers zweites Buch, sein erster Roman. Natürlich ist da diese Referenz, zu einem anderen Schriftsteller, der das Klischee vom bayerischen Mannsbild nur halb erfüllt hat: Oskar Maria Graf. Der Schriftsteller, am Starnberger See geboren und aufgewachsen, hat mit seinen autobiografischen Büchern "Wir sind Gefangene" und "Das Leben meiner Mutter" das harte Landleben und die Veränderungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts in kraftvoller Sprache geschildert. Und er hat sich 1933 aus dem Wiener Exil, entsetzt darüber, dass seine Bücher von den Nazis ausdrücklich empfohlen worden waren, mit dem Aufruf "Verbrennt mich!" mit den verfemten und verbrannten Autorenkollegen solidarisiert. Was ihn nicht daran hinderte, sich bis zu seinem Tod Ende der 1960er Jahre im endgültigen Exil New York stets in Lederhosen zu kleiden.
Ein Wirtshaus am See
Auch Bierbichler stammt vom Starnberger See, er ist in einem Wirtshaus-Bauernhof aufgewachsen (statt in einer Bäckerei wie Graf), und er teilt mit diesem die kraftvolle Sprache und die Liebe zu den Menschen, die er beschreibt.
Auch Bierbichler erzählt eine (seine?) Familiengeschichte über mehrere Generationen, aber er tut das lyrischer. Bei ihm laufen Schicksale aus dem gesamten deutschen Sprachraum zusammen und natürlich liegt ein Hauptaugenmerk auf der Zeit nach der Nazi-Machtergreifung, auf dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit danach bis zur 68er-Rebellion.
Josef Bierbichler liest im Rahmen des Salzburger Literaturfests gemeinsam mit Franz Schuh am 2. Juni ab 19.30 Uhr im Solitär am Salzburger Mozarteum
Bierbichlers Sprache ist oft hart und direkt, Mitleid verweigert er seinen Figuren, aber nie Mitgefühl. Er zieht sich in die Rolle des Beobachters zurück, urteilt nicht, und wenn, dann nicht ohne den Zweifeln an seinem Urteil den gleichen Raum zu geben wie dem Urteil selbst. Er zeichnet die Entwicklung seines Landes, indem er die Geschichte der Landbevölkerung erzählt, die Geschichte von Flüchtlingen, von Kriegsgefangenen und -versehrten beider Weltkriege, von Rückkehrern, von Touristen, von Aufschneidern und von Frömmlern. Immer begleitet eine gewisse Melancholie die Protagonisten.
Mittelreich ist ein intensives, ein furioses, zurecht hoch gelobtes Buch. Das Hörbuch, vom Autor selbst gelesen, war Hörbuch des Jahres 2011. Ein Grund mehr, eine seiner Lesungen zu besuchen, zum Beispiel am 2. Juni beim Salzburger Literaturfest.