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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

31. 5. 2012 - 21:47

EM-Journal '12-10.

Der Countdown zur Fußball-EM. Mit einer Einschätzung aller Mannschaften. Heute in Teil 9: unbekanntes Italien!

Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.

Heute: ein genauerer Blick auf eines der sechzehn teilnehmenden Teams - Italien

Bisher erschienen:
1) England
2) Tschechien
3) Portugal
4) Irland
5) Dänemark
6) Schweden
7) Kroatien
8) Polen

Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journal '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.

Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12 . Upcoming, im August: ein Journal zu dem London-Olympics.

FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.

Italien ist, und das schon die gesamte Qualifikation über das Team, das ich am allerwenigsten greifen kann.
Das hat mit der großen Personal-Fluktuation unter Cesare Prandelli zu tun, die zuletzt - wie gefühlt eigentlich alle zwei Jahre... - auch durch die Staatsanwälte beeinflusst wurde (Buffon und Bonucci sind verdächtig, Criscito wurde gar entlassen), mit dem undurchsichtigen Berg- und Talfahrt, die die Serie A in den letzten drei Jahren genommen hat (die eine Einschätzung spielerischer Qualität zunehmend erschwert) aber auch - vor allem - mit der Unklarheit der taktischen Grundstrategie.

Das hat wiederum mit Cesare Prandelli zu tun. Der Coach ist keiner aus der klassischen Nomenklatura, sondern einer, der sich bei kleineren Clubs mit Erfolgen hochackern musste und somit (fürs taktiknarrische Italien ganz logisch) einer, der eine Menge Pläne und Varianten im System-Tornister hat. Prandelli hat das davor in der Squadra Azzura übliche 4-3-3 (eines mit drei eigentlich mehrheitlich defensiven Mittelfeldspielern) als auch das von ihm zu Vereinszeiten geschätzte 4-2-3-1, als auch das flache 4-4-2 gespielt. Und, wenn sein Lieblingsschüler Montolivio dabei ist, dann darf der sogar als Zehner in einem 4-4-2-Rautensystem auftreten.
so Klasse es ist, soviele Variationen ausspielen zu können - für ein sich neu findendes Team, das schon auch eine gewisse Kontinuität braucht ist das nicht optimal.

Prandelli spricht gerne von einem "fluiden Fußball", den er praktizieren würde, und davon, dass die Balance wichtig wäre. Er meint die zwischen Abwehr und Angriff; und er spricht damit den ewigen italienischen Faktor an. Alle großen Italia-Auswahlen der letzten 45 Jahre (meine früheste Erinnerung geht bis zum grandiosen Team von 1970 zurück) haben davon gelebt, dass sie diese Balance gefunden haben. Und all diese Teams hatten diese Balance schon in ihren Herz- uind Prunkstücken: der Abwehr. Egal ob Facchetti/Burgnich/de Sisti oder Baresi/Scirea/Bergomi/Cabrini oder Cannavaro/Nesta/Zambrotta: wenn im scheinbar destruktivsten Mannschaftsteil Männer mit kreativen Ideen am Werk waren, begann Italien noch heller zu leuchten.

Und gerade in der Abwehr herrscht, auch schon in der Qualifikation, Betrieb wie am Umsteige-Terminal Frankfurt/Main. Und Ihr Chef, Giorgio Chiellini, ist ebensowenig ein heimlicher Poet wie seine restlichen Mitstreiter.
Auf Andrea Pirlo, 2006 noch einer der Chefautoren des letzten großen Auf´tritts, setzt Prandelli trotz dessen Schreibblockade - und das restliche Mittelfeld hat noch nicht so richtig publiziert, international. Nur vorne fällt der grelle Bestseller-Autor Mario Balotelli ordentlich auf.

Hoher Variantenreichtum als Eigentor?

Cesare Prandellis 23er-Kader:

Tor: Kapitän 1 Gianluigi Buffon (Juventus), 12 Salvatore Sirigu (Paris SG/FRA), 14 Morgan De Sanctis (Napoli).

Abwehr: 2 Christian Maggio (Napoli), 3 Giorgio Chiellini, 15 Andrea Barzagli, 19 Leonardo Bonucci (Juventus), 6 Federico Balzaretti (Palermo), 7 Ignazio Abate (Milan), 4 Angelo Obinze Ogbonna (Torino).

Mittelfeld: 5 Thiago Motta (Paris SG/FRA), 16 Daniele De Rossi (Roma), 21 Andrea Pirlo, 8 Claudio Marchisio, 13 Emanuele Giaccherini (Juventus), 23 Antonio Nocerino (Milan), 18 Riccardo Montolivo (Fiorentina), 22 Alessandro Diamanti (Bologna).

Angriff: 9 Mario Barwuah Balotelli (Manchester City/ENG), 20 Sebastian Giovinco (Parma), 10 Antonio Cassano (Milan), 17 Fabio Borini (Roma), 11 Antonio Di Natale (Udinese).

Auf Abruf: Emiliano Viviano (Palermo); Andrea Ranocchia (Inter), Mattia Destro (Siena). Im erweiterten Großkader: Davide Astori (Cagliari), Salvatore Bocchetti (Rubin Kazan/RUS) und die Rookies Luca Cigarini, Ezequiel Schelotto (Atalanta) und Marco Verratti (Pescara).

Wegen Wettbetrugsvorwurf aus dem Kader entlassen: Domenico Criscito (Zenit St Petersburg/RUS).

Mir ist das alles nicht unsympathisch - allem voran Prandellis professoraler Ansatz, die taktisch gut abgehangene Systemtreue, die Kadererstellung nach strategisch ausgewogenen Gesichtspunkten. Bloß: eine Mannschaft, die bei einem großen Turnier für Furore sorgen soll, braucht eine solide Basis, von der aus sie operieren kann.
Das kann etwa Verlässlichkeit und Eingespieltheit oder im Extremfall Verve und Improvisations-Lüsternheit heißen; der aktuellen italienischen Mannschaft fehlt aber sowohl das eine als auch das andere. Der einzige sichtbare Alleinstellungs-Faktor ist die für italienische Verhältnisse übergroße Jugendlichkeit des Teams.

Dem widerspricht dann aber das meist behäbig inszenierte Mittelfeldspiel des Trios Pirlo, de Rossi und Marchisio. Und der recht beliebige Umgang mit den Offensiv-Kräften.

Dazu schlägt Prandellis Personalpolitik womöglich immer einen Haken zuviel. Trotz seiner "Jugend zuerst!"-Ankündigungen nominiert er den alten De Sanctis und nicht den jungen Viviano, der nach Buffon die Nummer 2 in der Quali war. Mit Cassani, Ranocchia, Aquilani, Palombo lässt er gleich fünf Akteure mit mehr als drei Quali-Spiel-Einsätzen unberücksichtigt, während er kurz vor der EM noch einen Rudel Rookies neu nominiert. So etwas motiviert nicht, es verunsichert. Vor allem eine Mannschaft, die sich über sich selber eh noch nicht so recht im Klaren ist. Auch wieder so ein Mosaik-Stein eines Puzzles, einer der vielen Gründe, warum Team Italie mich recht ratlos zurücklässt.

Wer fehlt?

Am härtesten wird die Squadra Azurra wohl vom Ausfall von Guiseppe Rossi (Villarreal) getroffen - der Stürmer hätte im taktischen Konzept Prandellis aufgrund seiner Flexibilität eine gute Rolle spielen können.

Mit Criscito fällt des Wettskandals wegen der Stamm-Linksverteidiger aus, dumm gelaufen.

Jungstar Davide Santon (Newcastle) ist ein Mourinho-Schüler, spielt aber einen fürs Team wohl zu riskanten Außenverteidiger. Ein anderer (Federico Macheda/ManU) parkt noch in der U21.

Andere Legionäre (Cristian Molinaro/Stuttgart, Alessandro Rosina/Zenit St. Petersburg, Vito Mannone/Arsenal, Tiberio Guarente/Sevilla...) kamen nicht in Betracht. Der durchschnittliche italienische Legionär ist deutlich über 30 (Ferrari, Maresca, Cirillo, Corradi, Camoranesi, Cudicini).

Überraschend kam der Verzicht auf den Mittelfeld-Alleskönner Alberto Aquilani von Milan, der immerhin 5 Quali-Spiele bestritten hatte. Verletzt sind seine Teamkollegen Abbiati und Bonera sowie Paolo de Ceglie (Juve).

Auch bis zuletzt im Länderspieleinsatz: Mattia Cassani und Lorenzo De Silvestri (Fiorentina), Luca Antonelli (Genoa) Simone Pepe und Alessandro Matri (Juventus) Giampaolo Pazzini (Inter) Paolo Osvaldo (Roma) und Altstar Alberto Gilardino (Genoa), ein anderer Ex-Fiorentina-Akteur von Prandelli. Zu jung: Lorenzo Insigne (Napoli) und Stephan El Shaarawy (Milan).

Von Lippis 2010-Team fehlen Fabio Cannavaro, Gattuso, Iaquinta, Camoranesi, Zambrotta, sowie Fabio Quagliarella (jetzt Juve) und Angelo Palombo (jetzt Inter), die 2011 noch mit dabei waren; von Donadonis Euro-Kader '08 sind es Panucci, Grosso, Del Piero, Luca Toni, Ambrosini, Perrotta, Materazzi und auch der immer noch im weiteren Kreis befindeliche Alessandro Gamberini (Fiortentina).

Pippo Inzhagi geht gerade in Rente, Francesco Totti spielt längst nur noch für Rom, Lazio-Kapitän Stefano Mauri hat andere Sorgen.

Was steht zu erwarten?

Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche, mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail (martin.blumenau@orf.at). Ich habe sicher den einen oder anderen Di Vaio übersehen.

Gute Frage.
Kein Antwort möglich.
Mit Top-Favorit Spanien in der Gruppe ist der Druck schon einmal nicht allzu groß. Der Aufstieg ins Viertelfinale wird aber erwartet, daheim und weltweit.
Mit den Wirrnissen im Vorfeld, der überkandidelten Personalpolitik und der übergroßen Systembreite ist ein Durchmarsch in beide Richtungen denkbar: die Spirale nach unten scheint möglich, das positive Hochschaukeln genauso. Auch 2006 wurde eine im Vorfeld mit Liga-Betrugsverdacht konfrontierte Mannschaft Weltmeister.
Dazu fehlt aber diesem Team das bereits erwähnte poetische Etwas.