Erstellt am: 30. 5. 2012 - 21:45 Uhr
EM-Journal '12-09.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Heute: ein genauerer Blick auf eines der sechzehn teilnehmenden Teams - Polen
Zum Thema Rassismus & Hools hier mehr.
Bisher erschienen:
1) England
2) Tschechien
3) Portugal
4) Irland
5) Dänemark
6) Schweden
7) Kroatien
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journal '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12 . Upcoming, im August: ein Journal zu dem London-Olympics.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.
Polen hat nicht nur wegen der Kaczyńskis, der stockkonservativen katholischen Kirche oder der Nazi-Hooligans einen Rechtsdrall; auch das Nationalteam setzt das fort. Nicht politisch, sondern auf dem Platz. Auf der rechten Seite, da ist Franciszek Smudas Team Top: hinten Piszczek, davor Kuba und davor Lewandowski - dieser meisterliche Trio von Polonia Dortmund kann jeden Gegner in Angst und Schrecken versetzen.
Der Rest, die Linke und das Zentrum ist jedoch nicht unbedingt erstklassig. Aber: von Anfang an. Denn: Noch ist Polen nicht verloren, sondern womöglich der einzige echte Geheimfavorit des ganzen Turniers.
Seit 2009 bastelt Franciszek Smuda (der ungern mit dem WM-Helden von '74, dem hünenhaften Verteidiger Władysław Żmuda verwechselt wird) an einer Mannschaft für diese prestigeträchtige Euro daheim. Der Aufbau gestaltete sich einigermaßen schwierig. Ähnlich wie Österreich hatte man eine dem Zufall (durch eine grandiose Spielergeneration) geschuldete Erfolgs-Phase (von Olympia-Gold '72 bis zum dritten Platz '82, mit der überragenden Truppe der WM '74 im Fokus), an die man danach nicht einmal ansatzweise anschließen konnte. Man versank im Mittelmaß und im Selbstmitleid, produzierte nur noch vereinzelte Klasseleute (Jerzy Dudek, Juskowiak, Krzynówek, Ebi Smolarek, ...) und vernachlässigte in den '90ern und den Nuller-Jahren Nachwuchs-Pflege, Export-Orientierung und die Qualität in der heimischen Liga. Klingt alles sehr nach Österreich. Einziger Unterschied: Bis heute hat sich in Polen nicht allzu viel an den Missständen geändert.
Das äußert sich in einer inhomogenen Mannschaft, die auch nach vielen Monaten der konzentrierten Vorbereitung ihre Schieflage nicht überkommen kann. Da spielen neben den drei Top-Leuten aus Dortmund Zweitliga-Akteure, da füllen heimische Mittelklasse-Leute die Lücken auf, da greift man (nicht zum ersten Mal) auf Beute-Polen zurück.
Nach Emmanuel Olisadebe und Roger Guerreiro, der Österreich '08 aus der eigenen Euro schoss, sind das heuer die beiden Franzosen Perquis und Obraniak und die Deutschen Polanksi und Boenisch. Auf dem Platz, das beschloss der Verband hochoffiziell, wird demzufolge Englisch gesprochen werden.
Noch ist Polen nicht verloren - im Gegenteil
Die Auswahl von Franciszek Smuda :
Tor: 1 Wojciech Szczęsny (Arsenal/ENG), 22 Przemysław Tytoń (PSV Eindhoven/NED), 12 Grzegorz Sandomierski (Jagiellonia Białystok -> Genk/BEL).
Der ursprünglich als 2er-Tormann eingeplante Łukasz Fabiański (Arsenal/ENG) verletzte sich im letzten Moment.
Abwehr: 20 Łukasz Piszczek (Borussia Dortmund/D), 2 Sebastian Boenisch (Werder Bremen/D), 13 Marcin Wasilewski (Anderlecht/ BEL), 15 Damien Perquis (Sochaux/FRA), 14 Jakub Wawrzyniak (Legia Warszawa), 3 Grzegorz Wojtkowiak, 4 Marcin Kamiński (Lech Poznań).
Mittelfeld: 16 Jakub "Kuba" Błaszczykowski (Borussia Dortmund/D), 5 Dariusz Dudka (Auxerre/FRA), 6 Adam Matuszczyk (Fortuna Düsseldorf/D), 7 Eugen Polanski (Mainz/ D), 11 Rafal Murawski (Lech Poznań), 10 Ludovic Obraniak (Girondins Bordeaux/FRA), 8 Maciej Rybus (Terek Grozny/ RUS), 21 Kamil Grosicki (SivasSpor/TUR), 19 Rafał Wolski (Legia Warszawa).
Angriff: 18 Adrian Mierzejewski (Trabzon/ TUR), 23 Paweł Brożek (Celtic Glasgow/ SCO), 9 Robert Lewandowski (Borussia Dortmund/D), 17 Artur Sobiech (Hannover/ D).
Zuvor im Großkader, jetzt auf Stand-By: Kamil Glik (Torino/ITA), Tomasz Jodłowiec (Polonia Warszawa), Arkadiusz Głowacki (TrabzonSpor/ TUR), Marcin Komorowski (Terek Grozny/RUS); Michał Kucharczyk (Legia Warszawa), Ariel Borysiuk (Kaiserslautern/D); Ireneusz Jeleń (Lille/FRA), Arkadiusz Piech (Ruch Chorzów), Michał Żyro (Legia Warszawa).
Trotz dieses Zustands der Zerrissenheit ist es das polnische Team, dem viele zutrauen als einzige Mannschaft jenseits der üblichen Verdächtigen mittels eines Laufs vielleicht sogar ins Halbfinale zu kommen. Der Heimvorteil hat schon so manche Mannschaft über ihr eigentliches Vermögen geschossen.
Bewerkstelligt soll das mit einem flügellastigen 4-4-1-1, das auch als 4-2-3-1 lesbar wäre, werden. Die rechte Seite ist, wie schon angemerkt, die, über die die kreativen Angriffe gefahren werden - dementsprechend richtet sich auch die Mittelfeld-Zentrale und die hängende Spitze hinter Lewandowski aus: alles wird auf die drei Borussen abgestimmt.
Letztlich wird der Erfolg dieser asymmetrisch aufgestellten Truppe davon abhängen wie brauchbar die vermeintlich Schwachen die paar Starken unterstützen werden.
Smuda und sein Co Jacek Zielinski können in jedem Fall mit Perquis-Wasilewski und davor Dudka auf eine defensiv recht unverrückbare Trutzburg setzen; dazu kommt die Qualität der polnischen Torhüter - auch wenn die Nummer 2, Fabianski, sich verletzt hat: Szczesny wird das Ding schon schaukeln.
Über zentrale Kreativität verfügt man halt nicht.
Wer fehlt?
Dass Głowacki, Komorowski und vor allem Stürmer Jelen nur auf Stand-By stehen, während Kucharczyk und vor allem der Rookie Rafał Wolski im Kader stehen, überrascht.
Durchaus schmerzlich ist die Abwesenheit von Slawomir Peszko vom 1. FC Köln, der sich nach besoffener Randale in einem Taxi plus anschließender Verhaftung selber ins Out schoss - in Polen gehört das Wässerchen auch im Fußball zwar zur Folklore und zum Alltag, hin und wieder werden aber Exempel statuiert, um den Schein aufrecht zu erhalten.
Auch der langjährige Tormann Artur Boruc (Fiorentina/ITA) hatte zu lang zu tief ins Glas geblickt.
An bekannten Namen fehlen der erwähnte Roger Guerreiro (mittlerweile bei AEK Athen) und Ex-Austrianer Sebastian Mila (jetzt Śląsk Wrocław), der noch im Februar kurz ins Team reinschnuppern durfte. Ebi Smolarek, jetzt in seiner eigentlich Heimat, beim holländischen Den Haag, ist bereits vor Jahren zurückgetreten.
Andere Euro-08-Veteranen wie Mariusz Lewandowski (jetzt bei Sevastopol in der Ukraine) sind ebenso allzu deutlich über ihrem Zenit.
Auf Legionäre wie Bartosz Salamon (Brescia), Radoslaw Majewski (Nottingham) oder Grzegorz Krychowiak (Nantes) darf man verzichten, auch weil sie nur in zweiten Ligen auflaufen - wie so viele Polen, die im Ausland nur bei zweiten und dritten Adressen beschäftigt sind. Mateusz Klich kam bei Wolfsburg kaum zum Einsatz.
Aus der heimischen Ekstraklasa waren noch Tormann Michał Gliwa (Polonia) und Verteidiger Piotr Celeban (Slask) in der Verlosung, sowie die Mittelfeldler Janusz Gol (Legia), Waldemar Sobota (Slask) und Szymon Pawłowski (Zaglebie) oder Stürmer Maciej Jankowski (Ruch Chorzow).
Im Übrigen hat auch der einzige Österreicher, der nach dem Scheitern des ÖFB-Team noch eine theoretische Chance auf eine Berufung hatte, diese verpaßt: Ex-Bayern-Spieler Daniel Sikorski, Doppelstaatsbürger in Diensten von Polonia Warschau, hätte eine Top-Saison gebraucht, um sich zumindest für einen Testeinsatz aufzudrängen - ein echtes Seuchenfrühjahr verhinderte das.
Was steht zu erwarten?
Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche, mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail (martin.blumenau@orf.at). Ich habe sicher den einen oder anderen Maciej Sadlok übersehen.
Die selbstgesteckten Erwartungen sind hoch: Erreichen des Viertelfinals. Das ist gegen die Defensiv-Künstler Griechenland und die beiden allen Polen gut bekannten Nachbarn, den launischen Künstlern aus Tschechien und Russland, nicht unmöglich. Allerdings können alle drei Gruppengegner auf seit einigen Jahren funktionierende Team-Strukturen zurückgreifen - der Stamm dieser Mannschaften spielt bereits jahrelang zusammen und hat auch einige Turniere hinter sich.
Das alles fehlt Polen, ebenso wie ein ausgewogenes Teamgefüge. Dass man ihnen trotzdem zutrauen kann, etwas zu reißen, zeigt nicht nur wie offen die Situation in der Gruppe A ist, es gibt auch einen deutlichen Hinweis auf die Verfasstheit der meisten anderen Teams.