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Roland Gratzer

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30. 5. 2012 - 18:50

Schulterschlussklopferei

Ein Kommentar zum gestrigen #oe24-Shitstorm

Shitstorm (dt. Empörungswelle) bezeichnet in der deutschen Sprache ein Internet-Phänomen, bei dem massenhafte öffentliche Entrüstung sachliche Kritik mit zahlreichen unsachlichen Beiträgen vermischt. Ein typischer Shitstorm umfasst unter anderem „Blogbeiträge oder -kommentare, Twitternachrichten oder Facebook-Meldungen“. Dabei richtet sich die Empörung zumeist „aggressiv, beleidigend, bedrohend oder anders attackierend“ gegen Konzerne, Einzelpersonen oder in der Öffentlichkeit aktive Personengruppen, etwa Parteien oder Verbände. Der Begriff wurde zum Anglizismus des Jahres 2011 gewählt.

Quelle: Wikipedia

Gestern war in Österreich Hochdrucklage. Der Auslöser war die tragische Geschichte eines Kindes aus Niederösterreich, das von seinem eigenen Vater erschossen worden ist. Dieses Drama lässt niemanden kalt, am wenigsten den Boulevard. Seit Tagen sind der Name und ein Foto des Jungen in den Medien präsent. Doch das hat bisher niemanden gestört. Erst als die Website der Tageszeitung "Österreich" einen Live-Ticker vom Begräbnis online stellt, steigt die Empörungsblase auf. Am Ende des Tages hat der Herausgeber von nichts gewusst, die Redaktion hat sich entschuldigt, oe24-Inserenten reagierten schnell. Microsoft zum Beispiel will eine "Klärung des Sachverhaltes" und hat die Inseraten-Kampagne "ausgesetzt". Die Twitteria jubelt, weil sie die Welt gerettet hat. Nach einmal drüber schlafen haben wir frisch gedrucktes symbolisches Kapital, kaum Lernprozess und absurde Forderungen nach Internetsperren.

Was war?

Der Live-Ticker wäre wohl im digitalen Nirwana geblieben, hätte die österreichische Twitteria keinen Shitstorm losgetreten. Inhaltlich hatte der Ticker wenig zu bieten, schließlich waren Medien vom Begräbnis ausgeschlossen.

Doch dann kam die Empörung und die Facebook-Walls waren voll mit Screenshots der Website, das Gesicht des Jungen omnipräsent. Der link zum Ticker machte die Runde und hat oe24 wohl die besten Klickzahlen seit Monaten beschert.

Dass das Foto des Jungen in einer Zeitung für die Angehörigen viel schlimmer sein muss als ein zusammengebastelter Liveticker, war da schon egal. Denn im Shitstorm ist selten Platz für differenzierte Meinungen. Wenn der kollektive Feind auch noch ein so dankbarer wie der Boulevard ist, verläuft die Aufmerksamkeitsspirale steil nach oben und ohne Rücksicht auf Verluste.

Im Gegensatz zu anderen Ländern führen in Österreich - bis auf wenige löbliche Ausnahmen - hauptsächlich Medienleute, Redakteure aus den großen Medienhäusern und ein paar andere Superchecker die Twitter-Rankings an.

In den vordersten Reihen der Wettermacher standen hauptsächlich jene Twitter-Benutzer, die auch die meisten Follower haben. Sie verstehen ihr Geschäft. Gleich nach der ersten Explosion gerieten jene Firmen ins Fadenkreuz, die auf oe24 inserieren. Diese reagierten sofort. Zwar ist der tatsächliche Werbewert auf österreichischen Websites nebensächlich, schlechte PR wollen aber alle vermeiden. Deshalb müssen die Opinion Leader im Netz bei Laune gehalten werden. Hier geht es ausschließlich um Stimmungen. Und die können lange jucken. Also: Raus mit dem Inserat, schnell einen diesbezüglichen Tweet absetzen. Mit vorsichtigen Formulierungen wird dafür gesorgt, dass nicht zu viel versprochen wird und die nächste Medienpartnerschaft nicht in Gefahr gerät. Nur ja nicht die Twitteria beleidigen. Nächste Woche ist das sowieso wieder allen wurscht.

Was bleibt?

Juristische Randbemerkung:

Ob die Zeitung für das Abdrucken von Foto und Vorname rechtliche Konsequenzen bekommt, ist eine Frage des postmortalen Persönlichkeitsschutzes. Entsprechende Ansprüche müssten die Angehörigen geltend machen.

Bei genauerer Betrachtung dieser Wechselwirkung stoßen wir auf eine problematische Vorgangsweise. Twitter-User (zumeist selbst journalistisch tätig) fordern Unternehmen dazu auf, inhaltlich zu überprüfen, wo sie inserieren. Das ergibt sich zwar meistens automatisch aus einer schlichten Zielgruppenanalyse, im Subtext wird damit aber etwas attackiert, wofür JournalistInnen seit jeher kämpfen: die absolute Trennung von redaktionellem Inhalt und Werbepartnern. Diese Trennung ist natürlich illusorisch und vor allem in Österreich eher eine Don Quijot'sche Windmühle, der gestrige Paradigmenwechsel zeigt aber in eine gefährliche Richtung. Hier wollen Journalisten zu politischen Playern werden und pfeifen auf bewährte Grundsätze.

Nachhaltig ist hier nur der Bedeutungsgewinn der lautesten Akteure: Wer ist der erste, der sich beschwert? Wem antworten die Firmen direkt auf Twitter? Wer darf sich am Abend bei einem Glas Rotwein über die gestiegene Follower-Zahl freuen? Und die eigenen Chefs werden auch zufrieden sein, wenn die braven Mitarbeiter in ihrer Freizeit einem Konkurrenten ordentlich ans Bein pissen.

In diesem Kommentar gibt es keine Links. Wär ja noch schöner.

Natürlich gibt es auch jene, die anders denken und bewusst Gegenargumente bringen, um einerseits ihre Empörung über die Empörung zu kommunizieren, andererseits selbst Kapital zu generieren (ich selbst nehme mich da nicht aus). Aber wenn der Shitstorm über die Dörfer zieht und ratlose Menschen ohne Dach zurücklässt, dann ist dafür kein Platz.

Interessant ist eine Forderung, die heute von Gerald Reischl gekommen ist. Der Chef der Kurier-Futurezone wünscht sich einen "Internetrat, der – auch online – immer dann zusammen kommt, wenn sich im heimischen Netz Fragwürdiges tut". Wenn oe24 also wieder so etwas macht, soll die Website kurze Zeit später straf-gesperrt werden. Abgesehen davon, dass diese Forderung von Menschen kommt, die seit Jahren engagiert und leider erfolgslos für ein freies Internet kämpfen, stellt sich noch eine andere fundamentale Frage: Wer soll in diesem "Judge Dredd"-Rat sitzen? Klar ist die österreichische Medienkontrolle zahnlos und quasi nicht existent. Aber die Ahndung von medienrechtlichen Vergehen braucht eine juristische Vorgangsweise. Wer einen Bestrafungs-Kader will, der im Google Hangout darüber entscheidet, welche Websites "zur Strafe" mal ein paar Stunden offline genommen werden sollen, zweifelt die Rechtsstaatlichkeit an. Aber die ist bei all ihren Problemen und Fehlern immer noch besser als die Schnellschuss-Entscheidung eines selbst ernannten Weisenrats. Bis vor kurzem galten Internetsperren als kollektiver Feind einer aufgeklärten Netz-Gesellschaft. Plötzlich sollen sie Werkzeug gegen verhasste Medien sein.

An der absolut kritikwürdigen Praxis des österreichischen Boulevards wird sich trotz des gestrigen Kollektiverlebnisses nichts ändern. Wehrlose Opfer werden weiterhin in die mediale Schlacht geworfen, und die angeblichen Kritiker forcieren diese Untaten damit, dass sie sie an ihre wachsende Gefolgschaft verbreiten und im Anschluss moralische Schnelljustiz fordern.

Symbolisches Kapital kann manchmal ziemlich stinken.