Erstellt am: 31. 5. 2012 - 10:00 Uhr
Janukowitsch allein zu Haus
Boykott oder Nicht-Boykott, das ist hier die Frage. Zumindest für jene europäische Politiker, deren Länder auch tatsächlich bei der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine teilnehmen. Die österreichische Bundesregierung hat sich schnell entschlossen, geschlossen dem Turnier fern zu bleiben. Warum Werner Faymann oder Michael Spindelegger zum Beispiel bei Schweden gegen Frankreich auf der Ehrentribüne sitzen sollten, war aber auch davor nicht wirklich ersichtlich. Seit Wochen dreht sich die Berichterstattung über die EM in der europäischen Presse um kaum etwas anderes als die Boykottdrohungen von Angela Merkel & Co. Warum das so ist, versteht in der Ukraine kaum jemand. Für die meisten ihrer Landsleute ist Julija Timoschenko nicht die gute Führungsfigur, nicht die Jeanne d’Arc, als die sie sich selbst so gerne stilisiert – auch nicht in den regierungskritischen Zirkeln und vor allem nicht bei jenen vielen tausend jungen Ukrainern, die die Orange Revolution getragen haben.
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Timoschenko genauso unbeliebt wie Janukowitsch
Dass ihre Verurteilung eine politisch motivierte Farce und ein „Revanchefoul“ war (um es in Fußballer-Sprache auszudrücken), das steht für die Regierungskritiker, die heute in der Ukraine die große Mehrheit darstellen, außer Frage. Mitleid aber hat hier kaum jemand mit ihr. 2005, nach der Orangen Revolution, genoss die Politikerin mit dem eindrucksvollen blond(-gefärbten) Haarschopf hohe Popularität in der Bevölkerung. Nach ihren Jahren an der Spitze der Regierung kann aber davon keine Rede mehr sein. Den hunderttausenden Menschen auf der Straße versprach sie in den bitterkalten Tagen der Revolution ein Ende des korrupten Oligarchensystems, passiert ist – nichts. Ihre Rückkehr an die Macht wünscht sich heute kaum jemand. Auch jene, die grundsätzlich für Sanktionen gegen das Janukowitsch-Regime sind. Und davon gibt es immer mehr. Dass der Präsident nicht gerade die höchsten Beliebtheitswerte hat, zeigte sich bei der Eröffnung des für die EM umgebauten Olimpijskyj-Stadions im vergangenen Oktober.
Warum braucht es einen Hungerstreik von Timoschenko, damit die europäischen Regierungen erkennen, dass es vielleicht nicht die beste Idee ist, neben Viktor Janukowitsch im Stadion zu sitzen? Es ist eine Frage, die mir in Kiew oft gestellt wird – eine sinnvolle Antwort bin ich bisher schuldig geblieben, was wohl daran liegt, dass es keine gibt. Wenn ein Hungerstreik eines inhaftierten ehemaligen Regierungsmitglieds dafür ausreicht, dann hätte die ganze Diskussion schon vor einem Jahr beginnen müssen.
Damals verweigerte Juri Luzenko, Innenminister unter Ministerpräsidentin Timoschenko, die Nahrungsaufnahme. Zu diesem Zeitpunkt saß er bereits ein halbes Jahr hinter Gittern – ohne Anklage. Nach 14 (!) Monaten Untersuchungshaft wurde er im Februar zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, weil er seinem Chauffeur durch eine angeblich ungerechtfertigte Beförderung eine höhere Rente ermöglicht haben soll. Damals gab es zwar beispielsweise aus Deutschland Proteste gegen das Urteil, über einen Boykott wurde aber nicht gesprochen. Auch der ehemalige Verteidigungsminister Valeri Iwaschtschenko wurde wegen dubioser Immobiliengeschäfte zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der frühere Umweltminister Georgi Filiptschuk muss drei hinter Gittern verbringen und der frühere Vizejustizminister Jewgeni Kornijtschuk saß eine Zeit lang in Untersuchungshaft. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Was wäre ohne EM?
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Seit zwei Jahren berichten viele ukrainische Journalisten zudem von immer stärker werdenden Zensurbestrebungen der Regierung. Die großen TV-Sender des Landes sind allesamt in Händen steinreicher Oligarchen, die zum großen Teil zum Kreis der Präsidentenpartei gehören. Die Pressefreiheit – einer der wirklichen Errungenschaften der Orangen Revolution – ist in der Ukraine heute erneut nur eine ausgehöhlte Formel. Das Parlament ist nur noch ein Ausführungsorgan der herrschenden Elite, die Verfassung wurde im Sinne der Machthaber geändert und die Justiz dient Janukowitsch & Co als Racheinstrument gegen die politische Opposition. Die Ukraine entwickelt sich wieder zu jenem autoritären Staat, den die Orange Revolution glaubte endgültig beseitigt zu haben. All das geschieht nicht erst seit einigen Wochen, sondern bereits seit zwei Jahren. Würde die EM nicht in der Ukraine stattfinden, würde dann überhaupt über die dortige Menschenrechtssituation gesprochen werden?
„Kommt zu uns für Massenproteste“
Eine ausführliche Analyse der aktuellen Situation in der Ukraine gibt ein Paper der Stiftung Wissenschaft und Politik
„Besser spät als gar nicht“, ist eine gängige Formel, die ich in der Ukraine als Antwort bekomme, wenn ich nach der Sinnhaftigkeit des politischen Drucks von Seiten der EU nun kurz vor der EM frage. „Es gibt hier viele Menschen, die Janukowitsch nicht die Hand schütteln würden, warum sollten die Regierungschefs anderer Länder das tun müssen“, sagte ein Freund in Kiew zu mir, als die ersten Boykottdrohungen aufkamen. Dass sich die Diskussion im Westen vor allem um den Fall Timoschenko dreht, wird in der Ukraine in diesem Ausmaß gar nicht wahrgenommen. Hier geht es vielmehr um die Tatsache, dass sich das Land immer stärker in Richtung Diktatur entwickelt als um die Inhaftierung der früheren Ministerpräsidentin.
Von einem wirklichen Boykott aber halten die Menschen hier wenig. Mittlerweile befürchten viele, dass sich wegen all der Diskussionen viele Fußballfans dazu entscheiden, gar nicht in die Ukraine zu kommen. Juri Andruchowytsch, der bekannteste Schriftsteller des Landes, zeigte in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau Verständnis dafür, dass europäische Politiker dem Turnier fernbleiben, doch „andererseits sind da die einfachen Fußballfans, die hoffentlich nicht mit den ukrainischen Machthabern in Berührung kommen, dafür aber die Möglichkeit haben, mit einfachen Ukrainern zu reden. In dem Sinne bin ich also gegen einen Boykott. Kommt zu uns, und wir machen die Massenproteste zusammen!“