Erstellt am: 29. 5. 2012 - 20:42 Uhr
EM-Journal '12-08.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Heute: ein genauerer Blick auf eines der 16 teilnehmenden Teams - Kroatien
Bisher erschienen
1) England
2) Tschechien
3) Portugal
4) Irland
5) Dänemark
6) Schweden
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journal '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12 . Upcoming, im August: ein Journal zu dem London-Olympics.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.
Kroatiens Team hat einen riesengroßen Vorteil: sie haben bereits gewonnen. Kein anderes Balkan-Team hat sich qualifiziert, alle andere Ex-YU-Mannschaften sind gescheitert, von den Nachbarn ist niemand dabei. Die rotweißkarierten aus der Republika Hrvatska sind also bereits die regionalen Könige. Alles weitere ist reine Draufgabe. Und in der Gruppe mit Spanien und Italien, wo keiner mit einem Vorbei/Weiterkommen rechnet, können sie nur gewinnen.
Kroatien wird das, als eine von ganz wenigen Mannschaften, mit einem eher klassischen 4-4-2 versuchen, keiner defensiven Variante (dazu hat man zu viele talentierte Offensivspieler anzubieten), sondern mit einer Art 4-1-3-2. Damit steht Slaven Bilic erstaunlicherweise recht solitär da. Bei vergleichbaren Gelegenheiten war einer der beiden als Stürmer nominierten gerne auf die Flügel ausgewichen (Olic ist ein solcher Kandidat) - aktuell sieht es aber nach zwei echten Spitzen, also nach Fußball von vor fünf, acht Jahren aus.
Die wenigen Versuche einer Veränderung hat Bilic sofort nach deren Nicht-gleich-Gelingen wieder eingestellt, sie waren Alibi, in Wahrheit will keiner etwas anderes. Das hat auch damit zu tun, dass die kroatischen Stars, vor allem die im gutzahlenden Fußball-Ausland, das 4-4-2 des Nationalteams schon stark verinnerlicht haben.
Die Abwehr vor Pletikosa hat außer Sicherungsarbeit nichts zu tun, einzig Corluka hat rechts ein paar Freiheiten nach vorne. Und auch der Sechser (Vukojevic) ist eher ein Ausputzer. Für die Kreativität sorgt das Dreier-Offensiv-Mittelfeld - wahrscheinlich Srna rechts, Modric zentral und Rakitic links (mit Niko Kranjcar als Variante). Die haben ziemliche Freiheiten und sind fürs Anfüttern von Mandzukic und wahrscheinlich Ex-Rapidler Nikica Jelavic zuständig. Srna kann einen echten rechten Flügel spielen (weshalb sich mit Olic als Stürmer, sofern er dann auf links ausweicht, eine interessante 4-1-2-3-Variante ergeben kann), Rakitic/Kranjcar und der auch mögliche Ivan Perisic sind große Rochierer und Changierer.
Nachtrag von Anfang Juni: da Olic jetzt verletzt ausfällt, wird es diese Variante wohl nicht spielen.
Gefangen zwischen Konservierung und Risiko
Sobald der Ball bei einem dieser Kreativspieler angelangt ist, wird Kroatien gefährlich - in der Abwehr gilt eher das Prinzip der Holzfüßigkeit (ich spreche da von internationalem Level. In Österreich war Schildenfeld ein Edeltechniker, für die Euro reichen seine Skills nicht aus).
Slaven Bilić 23:
Tor: 1 Stipe Pletikosa (Rostov/RUS), 23 Danijel Subašić (Monaco/FRA), 12 Ivan Kelava (Dinamo Zagreb).
Abwehr: 5 Vedran Ćorluka (Tottenham/ENG), 21 Domagoj Vida, 3 Josip Šimunić (Dinamo Zagreb), 13 Gordon Schildenfeld (Eintracht Frankfurt/D), 4 Jurica Buljat (Maccabi Haifa/ISR), 2 Ivan Strinić (Dnipro-petrovsk/UKR), 6 Danijel Pranjić (Bayern München/D).
Mittelfeld: 11 Darijo Srna (Shakhtar Donetsk/UKR), 8 Ognjen Vukojević (Dynamo Kyiv/UKR), 14 Milan Badelj (Dinamo Zagreb), 16 Tomislav Dujmović (Dinamo Moskva), 19 Niko Kranjčar (Tottenham/ENG -> Din. Kiev/UKR), 10 Luka Modrić (Tottenham/ENG), 7 Ivan Rakitić (Sevilla/SPA), 20 Ivan Perišić (Borussia Dortmund/D). Nachgerückt für den verletzten Ivo Iličević (HSV/D) ist einen Tag vor Euro-Beginn 15 Šime Vrsaljko (Dinamo Zagreb).
Angriff: 22 Eduardo da Silva (Shakhtar Donetsk/ UKR), 9 Nikica Jelavić (Everton/ ENG), 17 Mario Mandžukić (VfL Wolfsburg/ D). Nachnominiert für den verletzten Ivica Olić (Bayern -> Wolfsburg) ist 18 Nikola Kalinić (Dnipro-petrovsk/ UKR).
Vorher im Großkader, jetzt auf Stand-By: Tormann Goran Blažević (Hajduk Split); Dejan Lovren (O. Lyon/FRA).
Unter anderem deshalb ist auch ein 3-1-4-2 möglich: nur drei Verteidiger und alle vier Kreativ-Stars im offensiven Mittelfeld. Das traute sich Bilic bislang aber nur in finalen Spielsituationen. Genau an dieser fehlenden Traute gingen aber praktisch alle Turniere in den Nuller-Jahren nicht über die Gruppen-Phase hinaus; und auch bei der Euro 08 (Viertelfinal-Aus) präsentierte man sich zu vorsichtig. Die Höhen des Spät-Achtziger-Teams mit den Göttern Boban, Prosinecki und Asanovic konnte man nicht mehr erreichen.
Bilic, damals wichtiger Teil der ebenfalls feurigen und hochklassigen Abwehr, prolongiert die Angst vor der eigenen Courage. Und das ist der Nachteil davon, dass man ja eigentlich schon gewonnen hat - Kroatien droht wieder einmal zuwenig zu riskieren, aus schierer Zufriedenheit.
Wer fehlt?
Überraschend noch aus dem Kader gekippt ist Dejan Lovren, der einzige ansatzweise spielstarke Abwehrspieler - seine Verletzung ist aber wohl zu hinderlich. Gleich nicht in den Großkader berufen wurden Mladen Petric (Mistsaison mit dem HSV) und Ivan Klasnic von Bolton, trotz einer guten Saison. Wären die beiden Abwehrspieler, wären sie wohl dabei (Muster-Beispiel: Joe Simunic), vorne im Angriff ist die Qualität aber zu groß.
In der Quali nur mit Kurzeinsätzen oder auf der Bank dabei: Jerko Leko (Dinamo Zagreb), Mato Jajalo (Köln/D), Linksverteidiger Manuel Pamic (Sparta Prag) und Ex-Rapidler Mate Bilic (Gijon). Damit hat es sich aber auch schon - Bilic ist der Coach, der mit den wenigsten Spielern ausgekommen ist.
Für die jungen Liga-Talente ist in dieser recht geschlossenen Gesellschaft (noch) kein Platz: Mateo Kovacic wurde zur U19-EM-Quali abkommandiert. Mario Maloca, Ante Vukušić und Anas Sharbini von Hajduk Split stehen auch auf der Warteliste.
Für die Altstars Dario Knezevic (Livorno), Mario Galinovic (Kerkyra), Igor Budan (Palermo) und Tormann Vedran Runje (nach seinem Job bei Lens aktuell vereinslos), die 2008 noch dabei waren, ist der Zug abgefahren. Andere wie Tormann Dario Kresic (PAOK), Srdjan Lakic (Hoffenheim) oder der in Polen bei Legia tätige Ivica Vrdoljak waren nie ein Thema; Stichwort "geschlossene Gesellschaft" - das kroatische Team umweht seit jeher der Hauch von Cliquen- und Freunderlwirtschaft.
Was steht zu erwarten?
Eigentlich, der Papierform nach und auch was die historische Dimension und die Herangehensweise betrifft ein Ausscheiden in der Gruppenphase.
Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche, mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail (martin.blumenau@orf.at) - ich habe sicher den einen oder anderen Mijatovic übersehen.
Letztlich wird die kroatische Performance aber vom Ausgang des ersten Spiels gegen Irland anhängen. Gestaltet Bilic diese taktische Herausforderung erfolgreich ist im zweiten Match gegen den gefühlten Nachbarn Italien, dessen Spiel man in- und auswendig kennt, auch etwas möglich. Die könnten da nach einer Auftaktniederlage nämlich schon unter Druck stehen. Andererseits ist Kroatien kein Konterteam, sondern eine Affekt-Mannschaft: wenn die vorderen fünf den Ball haben, dann wollen sie etwas draus machen.
Sollte sich Kroatien schon im ersten Spiel nicht durchsetzen, werden sie nach ganz unten durchgereiht werden.
Ich würde Bilic und den Seinen Mut zum Risiko wünschen; schließlich sind sie es, die das Banner der grandiosen jugoslawischen Fußball-Tradition hochhalten werden.