Erstellt am: 25. 5. 2012 - 18:18 Uhr
EM-Journal '12-04.
Das EM-Journal 2012 begleitet täglich die Euro in Polen und der Ukraine, ähnlich wie schon das WM-Journal '10 beim letzten Großereignis.
Heute: ein genauerer Blick auf eines der 16 teilnehmenden Teams.
3) Portugal
Bisher erschienen
1) England
2) Tschechien
Das alles im Rahmen des heurigen Fußball-Journal '12, welches sich - wie schon 2011 - mit den aktuellen Unwägbarkeiten dieses besten aller nicht lebenserhaltenden Systeme beschäftigt.
Siehe auch: Afrika-Cup-Journal '12 . Upcoming, im August: ein Journal zu dem London-Olympics.
FM4 hat auch diesmal wieder ein EM-Quartier im Wiener WUK, mit Public Viewing, Moderation und netten Gästen.
In der EM-Preview von spielverlagerung.de steht am Beginn seines Fazits ein böse gemeinter Satz: "Portugal ist der lebende Beweis, wie wichtig Taktik im modernen Fußball ist."
Denn: trotz individueller Klasse schafft es die Mannschaft seit den Zeiten von Wunder-Coach Scolari nicht ihr Potential auszuschöpfen. Und es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich daran bei dieser Euro etwas ändern wird.
Wieder war selbst die Qualifikation mühevoll - nach einem Fehlstart tauschte man den unbequemen Carlos Queiroz gegen die günstige Lösung Paulo Bento. An der Anmutung der Mannschaft änderte der Ex-Sporting-Coach dann aber wenig: auch er spielt ein 4-3-3 mit klassischen Flügeln und einem kampf- und laufstarken Mitelfeld ohne spielerische Brillanz. Und das heißt, dass Team Portugal trotz viel gefühlten Ballbesitzes nie so wirklich in das Idealbild des Kombinierens kommt, das man von ihnen gern sehen würde.
Andererseits: kann man auf die Flügelkraft von Ronaldo und Nani (oder Quaresma) verzichten? Ist es sinnhaft Moutinho und Meireles nicht einzusetzen?
Das Problem Spielaufbau beginnt in einer diesbezüglich nicht unbedingt starken Abwehr (Stichwort: Pepe). Zuletzt war Miguel Veloso von Fastabsteiger Genoa als echter Sechser eine große Stütze - er entlastet die Außenverteidiger und kann die beiden Achter (Moutinho/Meireiles) in Position und ins Spiel bringen und damit die Offensiv-Walze ins Rollen bringen. Und wenn die erst einmal angesprungen ist, dann kann es für jeden Gegner bitter werden.
Das beste Rezept aber für jeden Gegner Portugals (und das werden die exzellent gecoachtes Teams von Deutschland, Holland und auch Dänemark sein) ist es, das erst gar nicht zuzulassen. Wer es schafft außer diesem Stör-Pressing auch noch beide Flügel (mittels Dopplung und/oder Härte) aus dem Spiel zu nehmen, bringt Portugal zum Stehen.
Das Absacken in die Normalität
Der Kader von Coach Paulo Bento:
Tor: 1 Eduardo (Benfica), 12 Rui Patricio (Sporting), 22 Beto (CFR Cluj/ROM)
Abwehr: 19 Miguel Lopes (Braga), 21 Joao Pereira (Sporting -> Valencia/ SPA), 2 Bruno Alves (Zenit St Petersburg/RUS), 13 Ricardo Costa (Valencia/ SPA), 14 Rolando (Porto), 3 Pepe, 5 Fabio Coentrao (Real Madrid/SPA).
Mittelfeld: 4 Miguel Veloso (Genoa/ITA), 6 Custodio (Braga), 8 Joao Moutinho (Porto), 16 Raul Meireles (Chelsea/ENG), 15 Ruben Micael (Zaragoza/SPA), Nachrücker: 20 Hugo Viana (Braga).
Offensive: 17 Nani (Manchester United/ENG), 7 Cristiano Ronaldo (Real Madrid/SPA), 10 Ricardo Quaresma, 9 Hugo Almeida (Besiktas/TUR), 23 Helder Postiga (Zaragoza/SPA), 11 Nelson Oliveira (Benfica), 18 Silvestre Varela (Porto).
Der nominierte Carlos Martins (Granada/SPA) fällt verletzt aus.
Ich muss hier ein wenig ausholen: es ist kein Zufall, dass drei von bisher drei eher zufällig herausgegriffenen National-Mannschaften (nach England und Tschechien jetzt eben auch die Portugiesen) auf ein letztlich sehr ähnliches System zurückgreifen: auch die meisten der anderen Euro-Teilnehmer, vor allem aber die Favoriten, spielen allesamt eines der diversen 4-5-1-Hybride - egal ob im deutschen 4-2-3-1, im spanischen 4-1-4-1, im englischen 4-4-1-1 oder im holländischen 4-3-3. Es geht immer um ein Übergewicht im Mittelfeld, um schnelles Umschalten vor allem im Flügelspiel, um eine versatil denkende Mittelfeldzentrale und eine Offensiv-Reihe rund um eine Spitze. Nur in Schluss-/Druck-/Notphasen wird noch auf zwei Stoßstürmer gesetzt - da ziehen alle lieber gleich auf drei Angreifer an.
Portugal hat dieses Hybrid schon früh in diesem Jahrtausend für sich entdeckt und konnte sich lange Zeit gegen die lange noch recht plump auftretenden flachen 4-4-2-Systeme gut darstellen.
Diese Zeiten taktische Simplesse sind aber vorbei.
Bloß: das portugiesische Spiel hat sich nicht wesentlich weiterentwickelt. Im Vergleich zu den Lernprozessen, die Holländer, Spanier oder Deutsche hinter sich haben, steht in Lusitanien die Zeit recht still. Man verließ sich zu lange auf die Ideenwelten von Luiz Felipe Scolari, der das Team 2003 übernahm, zu einem Zeitpunkt als man dachte die Goldene Generation würde ganz ohne Strategie bis in alle Ewigkeit durchmarschieren. Dabei wäre eine Weiterentwicklung dringend nötig.
Das zeigte sich schon bei der WM '10, als Carlos Queiroz Spieler wie Danny oder Deco künstlich in sein 4-3-3 quetschte, nur um diese als nationales Heiligtum missverstandene Ikone ordentlich weiterzuführen.
Auch für diese Euro steht kein innovativer Schritt an: egal wie Bento sein Mittelfeld genau ausrichten wird (es geht es um die Positionierung der zentralen Spieler, um Nuancen, um ein 4-1-2-3 oder ein 4-2-1-3): die äußerst durchschaubare Spielanlage bleibt unangetastet. Löw und Co reiben sich schon die Hände.
Wer fehlt?
Vor allem eben der verletzte Danny von Zenit St. Petersburg, vielleicht der letzte zentrale Keativspieler der Rui Costa/Deco-Schule. Das ist Pech, zugegeben. Ich denke allerdings, dass auch diese Spieler ins aktuelle System gepresst worden wären.
Außerdem: kurzfristig fiel Carlos Martins von Granada aus. Tormann-Oldie Quim, die Rechtsverteidiger Nelson von Betis und Miguel von Valencia, die Atletico-Connection (Silvio, Pizzi & Tiago), Manuel Fernandes und der gute alte Simao von Besiktas, Duda und Eliseu von Malaga, Paulo Machado aus Toulouse und natürlich Altstar-Beau Nuno Gomes (aktuell bei Braga). Aus dem '10er-Kader fehlen neben ihm ua. auch die Beute-Brasilianer Liedson (wieder daheim bei Corinthians) und Deco sowie Ruben Amorim.
Durchaus bewusst zerstritten hat sich Coach Paulo Bento mit Ricardo Carvalho von Real Madrid und Jose Bosingwa von Chelsea - die Wickel dienten zur Installierung neuer Richtlinien.
Was steht zu erwarten?
Bleibt noch der Hinweis, dass ich alle UserInnen ersuche, mich doch auf ihnen allfällig fehlende Namen und Taten hinzuweisen; entweder im Forum oder per Mail (martin.blumenau@orf.at) - ich habe sicher den einen oder anderen da Costa übersehen.
Portugal ist von der Form und dem Willen seiner Konkurrenten in der Todesgruppe B abhängig: an einem strategisch guten Tag sollten Deutschland und die Niederlande keine Probleme mit einem leicht auszurechnenden Gegner haben. Für den spanischen Vizetorschützenkönig Cristiano Ronaldo und die Seinen bleibt letztlich nur das Heil in der Flucht nach vorne, was womöglich zu regelrechten Schlagabtausch-Orgien führen wird.
Tritt aber der Normalfall ein, bleiben die Immer-Geheimfavoriten diesmal schon in der Gruppenphase hängen, was ihre seit 96 prächtige Euro-Bilanz massiv beschädigen würde und so vielleicht ein Umdenken einleiten könnte. Vielleicht kommt ja auch irgendwann The Special One und erbarmt sich.