Erstellt am: 25. 5. 2012 - 12:29 Uhr
Kongo - eine Geschichte
CIA World Factbook
Drei Länder namens Kongo gab es mal, jetzt sind es noch zwei: das ehemalige Portugiesisch-Kongo ist heute als Cabinda eine angolanische Enklave, das frühere Französisch-Kongo wird als Republik Kongo oder Kongo-Brazzaville bezeichnet. Hier ist die Rede vom ehemaligen Belgisch-Kongo, später auch Zaïre genannt, heute Demokratische Republik Kongo oder Kongo-Kinshasa.
Es klingt erst einmal hochtrabend, wenn jemand sagt, er wolle die Geschichte eines ganzen Landes in einen neuen Kontext stellen. Noch dazu wenn das Land so groß ist wie Westeuropa und mit seinen Rohstoffen seit über hundert Jahren die ganze Welt versorgt. Aber David van Reybrouck wirkt nicht überheblich, im Gegenteil, und er kann sein Ansinnen auch gut begründen. „Eigentlich ist es unfassbar, dass wir in Belgien die Geschichte des Kongo immer noch meistens als Geschichte des belgischen Kolonialismus erzählen”, meint er. „Ich habe versucht, in meinem Buch die Geschichte des Kongo als eine Geschichte der Kongolesen zu erzählen.”
Geschichte von unten
Tatsächlich sind die Europäer, die Missionare und Kolonialbeamten, die Forscher und die Rohstoffausbeuter in van Reybroucks Buch nur Randfiguren, im Vordergrund stehen die Erlebnisse ihrer kongolesischen Diener, Gegner und Untertanen. Van Reybrouck hat den Kongo einige Male bereist, er hat dort Interviews geführt mit Zeitzeugen und Veteranen, mit den Kindern und Enkeln von Zeitzeugen, und mit Menschen, die eine kleine oder große Rolle gespielt haben in der Geschichte des Kongo – wie zum Beispiel Jamais Kolonga.
„Eines Tages war [Joseph] Kabasele mit seiner Band auf der Durchreise. Aber sein Zug ist entgleist, und sie haben das Schiff verpasst. Fünfzehn Tage saßen sie in Port Franqui fest! Ich wusste, dass die Tochter meines flämischen Chefs in Kürze heiraten würde und sorgte dafür, dass Kabasele auf der Hochzeit spielen durfte. … Den Musikern hatte ich Sondergenehmigungen beschaffen müssen, sonst hätten sie abends nicht ins Weißenviertel kommen können. Ich stand an der Bar und beobachtete eine Dame aus Portugal. Sie tanzte gut. Sie müssen bedenken, dass 1954 ein Schwarzer eine weiße Frau nicht berühren durfte. Wir konnten nicht einmal miteinander reden! … Aber bon, ich hatte also gesehen wie gut sie tanzte, und ich fragte ihren Mann, ob ich auch mal mit ihr tanzen dürfe. Einfach so! … Ein ganzes Stück lang haben wir zusammen getanzt. Danach applaudierten die Weißen, sogar der Provinzgouverneur! Kabasele schrieb darüber später dieses Lied: »Jamais Kolonga«.”
Ein ganzes Land in einem Leben
De Bezige Bij / Stephan Vanfleteren
Eine besondere Figur, gewissermaßen die Hauptfigur in dieser fast schon literarischen Aufarbeitung der kongolesischen Geschichte, ist Etienne Nkasi, ein einfacher alter Mann, den David van Reybrouck in einem Hinterhof in Kinshasa auftreibt. Als er ihn nach seinem Geburtsdatum fragt, sagt der Alte »Je sui né en mille-huit cent quatre-vingt-deux.«. 1882 – dann wäre er zum Zeitpunkt des Zusammentreffens (ein paar Tage nach Barack Obamas Wahl zum amerikanischen Präsidenten) 126 Jahre alt gewesen.
„Natürlich habe ich ihm zuerst nicht geglaubt”, sagt der Autor, „aber er hat sich an so viele Einzelheiten erinnern können aus den 1890er Jahren, aus der Zeit des Eisenbahnbaus. Der Religionsgründer Simon Kimbangu, von dem wir wissen, dass er 1889 geboren ist, stammt aus seinem Nachbardorf, und er hat als Kind mit ihm gespielt und ihn als seinen kleinen Bruder bezeichnet. Nkasi hatte weder einen Grund, mich zu veräppeln, noch hat er es jemals versucht. Ich weiß nicht, ob er wirklich so alt war, und ich werde es niemals wissen, aber er war sicher über 110, wahrscheinlich auch über 120. Er war ein wunderbarer Mensch.”
Stephan Vanfleteren
David van Reybrouck, geboren 1971 in Brügge, ist Schriftsteller und Journalist. Er hat bereits an mehreren Büchern über Belgien und den Kongo mitgearbeitet. Sein Theaterstück »Mission«, das auf Interviews basiert, die er mit Kongomissionaren für sein Buch geführt hat, wurde letztes Jahr mit großem Erfolg bei den Wiener Festwochen aufgeführt.
Etienne Nkasi ist 2010 gestorben, seinem Andenken ist das Buch gewidmet, und er eignet sich vor allem deswegen hervorragend als zentrale Figur, weil er so viel der Geschichte des Kongo erlebt hat. Die ersten Missionierungen und die Zeit der letzten Sklavenhändler, den zunächst gelungenen Versuch des belgischen Königs Leopold II., sich den Kongo als sein Privateigentum unter den Nagel zu reißen, den Beginn der Ausbeutung der Reichtümer des Landes: zuerst Elfenbein, dann Kautschuk, später Kupfer, Diamanten und Coltan; beide Weltkriege, die Entkolonialisierung in den Sechziger Jahren, die Bürgerkriege und die Diktatur Mobutus bis kurz vor dem Ende des 20. Jahrhunderts.
Elfenbein, Kautschuk, Diamanten
Die Kautschukproduktion markiert die brutalste Phase in der an brutalen Phasen reichen Geschichte des Kongo: die schwarzen BewohnerInnen wurden zur Kautschukernte gezwungen, wer nicht genug erntete, dem wurden die Hände abgehackt, Männern, Frauen und Kindern. Hunderttausende wurden abgeschlachtet, vertrieben, ihre Dörfer abgefackelt.
Manche Historiker bezeichnen die Kautschukpolitik Leopolds II. als Vorläufer des Holocaust. Van Reybrouck ist da vorsichtiger: „Ich möchte die damaligen Ereignisse keineswegs relativieren oder ihre Grausamkeit verharmlosen, aber ich versuche, sie in ihre historischen Zusammenhänge einzuordnen. Das erscheint mir sinnvoller als der Vergleich mit einem Ereignis aus einer anderen Zeit.”
Auch Joseph Conrad beschreibt in seinem 1899 erschienenen Roman "Das Herz der Finsternis" die Gräuel kolonialer Ausbeutung im Kongo. Sein Buch hat dem Kongo seinen Spitznamen eingebracht und ihn als mystisches, dunkles und rätselhaftes Land ein die Köpfe der Menschen eingebrannt. Die Grausamkeiten des Diktators Mobutu taten das Ihrige, um den schlechten Ruf des Kongo aufrecht zu erhalten. Heute, meint David van Reybrouck im Interview, ist der Kongo ein failed state, vergleichbar mit Somalia oder Afghanistan.
"Ich habe nicht verstanden, wie ein Land mit einem solch enormen ökonomischen Potenzial so kaputt sein konnte." Van Reybrouck versucht, es mit einem Vergleich zu erklären: "Stell dir einen alten und schwer kranken Mann vor, der nachts allein durch die Straßen von Brooklyn geht – die Jackentaschen überquellend von Diamanten. Werden ihm die Diamanten helfen? Nein, er wird ausgeraubt und zusammengeschlagen werden."
Herz der Finsternis
Suhrkamp Verlag
Der Kongo ist alt, schwach und krank. Ausgeblutet und ausgebeutet von internationalen Konzernen, Spielball der Mächte und Schauplatz blutiger Unterdrückung. Der Fluch seines Reichtums verfolgt ihn, und David van Reybrouck erzählt von diesem Fluch. Aber er erzählt auch von der Hoffnung, von den guten und glücklichen Zeiten, er ist nie larmoyant, und er erklärt Zusammenhänge, anstatt von Schuld und Opfern zu fabulieren. Das Werk ist gelungen: Kongo ist ein literarisches Geschichtsbuch, spannend wie ein Roman. Ein Buch, das erzählt von der Geschichte des Kongo bis zur Gegenwart, das aber ebenso viel von Imperialismus und Globalisierung erzählt, vom Ungleichgewicht zwischen den Kontinenten und seinen Folgen, und davon, wie tief Rassismus und Vorurteile unsere Gesellschaft durchziehen. Und natürlich ist es auch die Geschichte des europäischen Kolonialismus geworden – allerdings von der anderen Seite, und mit der Intention, den kongolesischen Fluch besiegen zu helfen.
„Den Kongolesen ist mit unseren Schuldgefühlen nicht geholfen”, meint David van Reybrouck. „Ich glaube, sie sind weit mehr daran interessiert, was wir als internationale Gemeinschaft tun können, um ihre Situation heute zu verbessern. Natürlich ist es notwendig, die historischen Zusammenhänge zu verstehen, und ich habe in meinem Buch versucht, sie so gut wie möglich darzustellen. Aber ich glaube, es ist wichtig, die Dichotomie von postkolonialem Stolz und postkolonialer Schuld zu überwinden. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass auch wir entkolonialisiert werden.”